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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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damit der Zuhörer der künstlichen Gliederung leicht folge, auch der gemüthliche
Ausdruck ist sehr verschieden und fein nuancirt, wie z. B. die Worte "Bleib bei
uns" bald bittend, bald zuversichtlich, daun wie ein drängender Ruf der Angst
aufgefaßt sind. Erst wenn diese Nuancirungen der Seelenstimmungen lebendig
und frei im Vortrag heraustreten, wird der Zuhörer inne, was der Meister ge¬
wollt hat, und die Wirkung wird auch heute nicht ausbleiben.

Da die vielstimmige große Gesangsmusik in jeder Hinsicht so ungenügend in
den Concerten vertreten ist, so fällt der Schwerpunkt auf die Solovorträge, die
Arien, d. h. die Virtuosität. Daß diese in den Concerten zur Geltung komme,
ist in der Ordnung, daß sie den ersten Platz einnimmt, ist nicht nur aus den
schon angedeuteten allgemeinen, sondern auch aus praktischen Gründen falsch.
Die Erfahrung hat uns hinlänglich gelehrt, daß mit sehr wenigen glänzenden Aus¬
nahmen die Sängerinnen,, welche im Abvnnementcvncert auftreten, keineswegs
den Anspruch machen können, weder die Kunst noch die Virtuosität des Gesanges
zu repräsentiren,^ sondern wir erleben eine Reihe von stets erneuten Versuche",
eine Mittelmäßigkeit mit der andern zu vertauschen. Dabei hängt es denn be¬
greiflicherweise meist vom Zufall ab, welche Arien die jedesmalige Sängerin im
Besitze hat, und wenn schon an sich die Arien verhältnißmäßig selten geeignet sind,
die Höhenpunkte der musikalischen LeisNmgen zu bezeichnen, so ist dabei an eine
strenge planmäßige Auswahl gar nicht zu denken.und alles gewonnen, wenn nur
die schlimmste Monotonie vermieden wird. Ein Uebelstand -- das muß man dankbar
anerkennen -- ist diesen Winter weniger bemerkbar geworden als früher, daß die
Sängerinnen, um den Ruf der Concerte zu wahren, eine classische, aber dann auch
eine möglichst classische Arie und gleich hinterher, um den eignen Ruhm zu sichern,
etre moderne, aber eine recht elende moderne Arie sangen, wobei man eigne Be¬
trachtungen anstellen konnte über die Art, wie das classisch gebildete Publicum
seinen Beifall zwischen Händel und Verdi theilte. Diese widerwärtige Mengerei
ist diesen Winter selten vorgekommen, aber es hat natürlich nicht verhindert wer¬
den können, daß eine Anzahl unendlich oft gehörter und unbedeutender Arien wie¬
der hat die Runde machen müssen. Ein anderer Mißgriff, der immer allgemeiner
wird, ist der Vortrag von Liedern im Concert. Dem Genie steht alles frei und
wenn Jenny Lind Lieder singt, wird niemand fragen, wo es sei und ob sie dahin
gehören. Aber das ist keine Rechtfertigung für andere. Das Lied gehört nicht in den
Concertsaal, es verlangt eine Sammlung und Stille der Empfindung und Stimmung,
welche dort nicht zu erreichen ist, und gar eine Reihe von Liedern, jedes verschieden,
unmittelbar hintereinander gesungen, muß jedes gesunde Gefühl verletzen. Der eigent¬
liche Grund dieser Vorliebe liegt in dem Dilettantcnhaftcn des Liedersingens, weil für
ein mäßiges Talent und eine mäßige Bildung in dem kleinen Umfang des Liedes am
ehesten ein gewisser Erfolg zu erreichen ist. Und grade das sollte ein Grund ssin,
sie vom Gewandhanscouccrt auszuschließen: hier müssen Mittel und Wirkung, so-'


damit der Zuhörer der künstlichen Gliederung leicht folge, auch der gemüthliche
Ausdruck ist sehr verschieden und fein nuancirt, wie z. B. die Worte „Bleib bei
uns" bald bittend, bald zuversichtlich, daun wie ein drängender Ruf der Angst
aufgefaßt sind. Erst wenn diese Nuancirungen der Seelenstimmungen lebendig
und frei im Vortrag heraustreten, wird der Zuhörer inne, was der Meister ge¬
wollt hat, und die Wirkung wird auch heute nicht ausbleiben.

Da die vielstimmige große Gesangsmusik in jeder Hinsicht so ungenügend in
den Concerten vertreten ist, so fällt der Schwerpunkt auf die Solovorträge, die
Arien, d. h. die Virtuosität. Daß diese in den Concerten zur Geltung komme,
ist in der Ordnung, daß sie den ersten Platz einnimmt, ist nicht nur aus den
schon angedeuteten allgemeinen, sondern auch aus praktischen Gründen falsch.
Die Erfahrung hat uns hinlänglich gelehrt, daß mit sehr wenigen glänzenden Aus¬
nahmen die Sängerinnen,, welche im Abvnnementcvncert auftreten, keineswegs
den Anspruch machen können, weder die Kunst noch die Virtuosität des Gesanges
zu repräsentiren,^ sondern wir erleben eine Reihe von stets erneuten Versuche»,
eine Mittelmäßigkeit mit der andern zu vertauschen. Dabei hängt es denn be¬
greiflicherweise meist vom Zufall ab, welche Arien die jedesmalige Sängerin im
Besitze hat, und wenn schon an sich die Arien verhältnißmäßig selten geeignet sind,
die Höhenpunkte der musikalischen LeisNmgen zu bezeichnen, so ist dabei an eine
strenge planmäßige Auswahl gar nicht zu denken.und alles gewonnen, wenn nur
die schlimmste Monotonie vermieden wird. Ein Uebelstand — das muß man dankbar
anerkennen — ist diesen Winter weniger bemerkbar geworden als früher, daß die
Sängerinnen, um den Ruf der Concerte zu wahren, eine classische, aber dann auch
eine möglichst classische Arie und gleich hinterher, um den eignen Ruhm zu sichern,
etre moderne, aber eine recht elende moderne Arie sangen, wobei man eigne Be¬
trachtungen anstellen konnte über die Art, wie das classisch gebildete Publicum
seinen Beifall zwischen Händel und Verdi theilte. Diese widerwärtige Mengerei
ist diesen Winter selten vorgekommen, aber es hat natürlich nicht verhindert wer¬
den können, daß eine Anzahl unendlich oft gehörter und unbedeutender Arien wie¬
der hat die Runde machen müssen. Ein anderer Mißgriff, der immer allgemeiner
wird, ist der Vortrag von Liedern im Concert. Dem Genie steht alles frei und
wenn Jenny Lind Lieder singt, wird niemand fragen, wo es sei und ob sie dahin
gehören. Aber das ist keine Rechtfertigung für andere. Das Lied gehört nicht in den
Concertsaal, es verlangt eine Sammlung und Stille der Empfindung und Stimmung,
welche dort nicht zu erreichen ist, und gar eine Reihe von Liedern, jedes verschieden,
unmittelbar hintereinander gesungen, muß jedes gesunde Gefühl verletzen. Der eigent¬
liche Grund dieser Vorliebe liegt in dem Dilettantcnhaftcn des Liedersingens, weil für
ein mäßiges Talent und eine mäßige Bildung in dem kleinen Umfang des Liedes am
ehesten ein gewisser Erfolg zu erreichen ist. Und grade das sollte ein Grund ssin,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/214>, abgerufen am 23.07.2024.