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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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"Disteldinger" ein aufmerksames und dankbares Publicum erworben. Das gegen¬
wärtige Büchlein wird voraussichtlich den gleichen Erfolg haben. Denn bei der
unsinnigen Uebertreibung, mit welcher die Reaction die poetischen Werke des Herrn
Oscqr v. Redwitz aufnahm, ist es zu natürlich, daß mau sich an jedem Spaße
erfreut, der gegen ihn aufgestellt wird, um so mehr, da die Krankhaftigkeit und
Verkehrtheit seines Schaffens in die Augen springt. Herr v. Redwitz ist nicht ohne
Talent, er würde unter der Legion unserer lyrischen Dichter so gut seine Stellung
behaupten, wie irgend ein anderer; aber die Reaction hat ihn in eine falsche Lage
gebracht, indem sie lediglich auf den materiellen Inhalt seiner Werke ihr Augenmerk
richtete. Daß Herr v. Redwitz das katholische Christenthum, die Monarchie und
den Adel wieder zu Ehre" bringen will, dagegen wäre gar nichts zu sagen, auch
selbst wenn er in seinem Eifer für diese Dinge etwas weiter ginge, als der, gesunde
Menschenverstand es billigen kann, denn einem lyrischen Poeten sieht mau in solchen
Dingen vieles nach. Aber es kommt nicht darauf an, was man darstellt, sondern
wie man es darstellt, und da die gesammte Aristokratie in diesen schwächlichen,
halb sentimentalen, halb barocken Sittenbildern, die an Geziertheit Fouque' noch bei
weitem überragen, ihr Ideal-gefunden hat, so ist es sehr zweckmäßig, wenn man
dies Ideal uciher ins Auge saßt und seine UnVollkommenheiten ansteckt. -- In¬
wieweit die gegenwärtige Satire im Recht ist, können wir freilich nicht beurtheilen,
da uns die berühmte Tragödie Sigclinde nicht bekannt ist. Da aber die meisten
der närrischen Einfälle, die Herr v. Mcrckel irvnisirt, schon in der "Amaranth" vor¬
kommen., fast mit der nämlichen lächerlichen Färbung, in der sie die Satire hervor¬
hebt, so wird auch wol das übrige getroffen sein. Außerdem hat Herr v. Merckcl
das Verdienst, nie über das Maß des guten Geschmacks hinausgegangen zu sein,
welches die satirischen Dichter so leicht übertreten. Freilich würde in poetischer
Beziehung das Buch noch gewonnen haben, wenn Herr v. Mcrckel den komisch-
ehrbaren Ton strenger beibehalten, wenn er ihn nicht zuweilen dnrch Berliner Witze
unterbrochen hätte, wie denn auch sonst manches Ueberflüssige zum Nutzen des Ganzen
hätte wegbleiben können.

Englische Literatur.

-- Wir haben bereits mehrfach auf das Umsich¬
greifen der Shclleyschen Schule, dieser dem britischen Charakter widersprechenden
Excentricität metaphysischer Poeten hingewiesen. Die Flut scheint noch im Steigen
zu sein. -- Von dem Verfasser des dramatischen Gedichts "Illo Ilomun", das wir
seiner Zeit besprochen haben, ist eine neue an die dramatische Form erinnernde
Dichtung erschienen: Bald er. Erster Theil. -- Baldcr ist nicht der nordische
Gott, sondern ein "Dichter" von 29 Jahren, der das ganze, sehr umfangreiche
Gedicht hindurch den Leser mit Beschreibung seines Genius unterhält, und in der
Selbstanbctung nahe bis zur Verrücktheit gekommen zu sein scheint. Natürlich ist
-er Poet nnr in der Idee, von wirklichen Schöpfungen erfahren wir nichts. Es
fehlt ihm noch eine Anschauung, die ihm wichtig ist: die Anschauung des Todes.
Er wünscht diese recht nahe, womöglich in seiner Familie zu haben, um sie genauer
beobachten zu können. Der Wunsch wird ihm erfüllt, sein Kind stirbt. Aber das
genügt ihm noch nicht. Glücklicherweise ist auch seine Frau vou einem lebhaften
Wunsch, zu sterben, erfüllt; sie wird nicht müde, den Leser mit ihrer etwas ein-


„Disteldinger" ein aufmerksames und dankbares Publicum erworben. Das gegen¬
wärtige Büchlein wird voraussichtlich den gleichen Erfolg haben. Denn bei der
unsinnigen Uebertreibung, mit welcher die Reaction die poetischen Werke des Herrn
Oscqr v. Redwitz aufnahm, ist es zu natürlich, daß mau sich an jedem Spaße
erfreut, der gegen ihn aufgestellt wird, um so mehr, da die Krankhaftigkeit und
Verkehrtheit seines Schaffens in die Augen springt. Herr v. Redwitz ist nicht ohne
Talent, er würde unter der Legion unserer lyrischen Dichter so gut seine Stellung
behaupten, wie irgend ein anderer; aber die Reaction hat ihn in eine falsche Lage
gebracht, indem sie lediglich auf den materiellen Inhalt seiner Werke ihr Augenmerk
richtete. Daß Herr v. Redwitz das katholische Christenthum, die Monarchie und
den Adel wieder zu Ehre» bringen will, dagegen wäre gar nichts zu sagen, auch
selbst wenn er in seinem Eifer für diese Dinge etwas weiter ginge, als der, gesunde
Menschenverstand es billigen kann, denn einem lyrischen Poeten sieht mau in solchen
Dingen vieles nach. Aber es kommt nicht darauf an, was man darstellt, sondern
wie man es darstellt, und da die gesammte Aristokratie in diesen schwächlichen,
halb sentimentalen, halb barocken Sittenbildern, die an Geziertheit Fouque' noch bei
weitem überragen, ihr Ideal-gefunden hat, so ist es sehr zweckmäßig, wenn man
dies Ideal uciher ins Auge saßt und seine UnVollkommenheiten ansteckt. — In¬
wieweit die gegenwärtige Satire im Recht ist, können wir freilich nicht beurtheilen,
da uns die berühmte Tragödie Sigclinde nicht bekannt ist. Da aber die meisten
der närrischen Einfälle, die Herr v. Mcrckel irvnisirt, schon in der „Amaranth" vor¬
kommen., fast mit der nämlichen lächerlichen Färbung, in der sie die Satire hervor¬
hebt, so wird auch wol das übrige getroffen sein. Außerdem hat Herr v. Merckcl
das Verdienst, nie über das Maß des guten Geschmacks hinausgegangen zu sein,
welches die satirischen Dichter so leicht übertreten. Freilich würde in poetischer
Beziehung das Buch noch gewonnen haben, wenn Herr v. Mcrckel den komisch-
ehrbaren Ton strenger beibehalten, wenn er ihn nicht zuweilen dnrch Berliner Witze
unterbrochen hätte, wie denn auch sonst manches Ueberflüssige zum Nutzen des Ganzen
hätte wegbleiben können.

Englische Literatur.

— Wir haben bereits mehrfach auf das Umsich¬
greifen der Shclleyschen Schule, dieser dem britischen Charakter widersprechenden
Excentricität metaphysischer Poeten hingewiesen. Die Flut scheint noch im Steigen
zu sein. — Von dem Verfasser des dramatischen Gedichts „Illo Ilomun", das wir
seiner Zeit besprochen haben, ist eine neue an die dramatische Form erinnernde
Dichtung erschienen: Bald er. Erster Theil. — Baldcr ist nicht der nordische
Gott, sondern ein „Dichter" von 29 Jahren, der das ganze, sehr umfangreiche
Gedicht hindurch den Leser mit Beschreibung seines Genius unterhält, und in der
Selbstanbctung nahe bis zur Verrücktheit gekommen zu sein scheint. Natürlich ist
-er Poet nnr in der Idee, von wirklichen Schöpfungen erfahren wir nichts. Es
fehlt ihm noch eine Anschauung, die ihm wichtig ist: die Anschauung des Todes.
Er wünscht diese recht nahe, womöglich in seiner Familie zu haben, um sie genauer
beobachten zu können. Der Wunsch wird ihm erfüllt, sein Kind stirbt. Aber das
genügt ihm noch nicht. Glücklicherweise ist auch seine Frau vou einem lebhaften
Wunsch, zu sterben, erfüllt; sie wird nicht müde, den Leser mit ihrer etwas ein-


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[0127] „Disteldinger" ein aufmerksames und dankbares Publicum erworben. Das gegen¬ wärtige Büchlein wird voraussichtlich den gleichen Erfolg haben. Denn bei der unsinnigen Uebertreibung, mit welcher die Reaction die poetischen Werke des Herrn Oscqr v. Redwitz aufnahm, ist es zu natürlich, daß mau sich an jedem Spaße erfreut, der gegen ihn aufgestellt wird, um so mehr, da die Krankhaftigkeit und Verkehrtheit seines Schaffens in die Augen springt. Herr v. Redwitz ist nicht ohne Talent, er würde unter der Legion unserer lyrischen Dichter so gut seine Stellung behaupten, wie irgend ein anderer; aber die Reaction hat ihn in eine falsche Lage gebracht, indem sie lediglich auf den materiellen Inhalt seiner Werke ihr Augenmerk richtete. Daß Herr v. Redwitz das katholische Christenthum, die Monarchie und den Adel wieder zu Ehre» bringen will, dagegen wäre gar nichts zu sagen, auch selbst wenn er in seinem Eifer für diese Dinge etwas weiter ginge, als der, gesunde Menschenverstand es billigen kann, denn einem lyrischen Poeten sieht mau in solchen Dingen vieles nach. Aber es kommt nicht darauf an, was man darstellt, sondern wie man es darstellt, und da die gesammte Aristokratie in diesen schwächlichen, halb sentimentalen, halb barocken Sittenbildern, die an Geziertheit Fouque' noch bei weitem überragen, ihr Ideal-gefunden hat, so ist es sehr zweckmäßig, wenn man dies Ideal uciher ins Auge saßt und seine UnVollkommenheiten ansteckt. — In¬ wieweit die gegenwärtige Satire im Recht ist, können wir freilich nicht beurtheilen, da uns die berühmte Tragödie Sigclinde nicht bekannt ist. Da aber die meisten der närrischen Einfälle, die Herr v. Mcrckel irvnisirt, schon in der „Amaranth" vor¬ kommen., fast mit der nämlichen lächerlichen Färbung, in der sie die Satire hervor¬ hebt, so wird auch wol das übrige getroffen sein. Außerdem hat Herr v. Merckcl das Verdienst, nie über das Maß des guten Geschmacks hinausgegangen zu sein, welches die satirischen Dichter so leicht übertreten. Freilich würde in poetischer Beziehung das Buch noch gewonnen haben, wenn Herr v. Mcrckel den komisch- ehrbaren Ton strenger beibehalten, wenn er ihn nicht zuweilen dnrch Berliner Witze unterbrochen hätte, wie denn auch sonst manches Ueberflüssige zum Nutzen des Ganzen hätte wegbleiben können. Englische Literatur. — Wir haben bereits mehrfach auf das Umsich¬ greifen der Shclleyschen Schule, dieser dem britischen Charakter widersprechenden Excentricität metaphysischer Poeten hingewiesen. Die Flut scheint noch im Steigen zu sein. — Von dem Verfasser des dramatischen Gedichts „Illo Ilomun", das wir seiner Zeit besprochen haben, ist eine neue an die dramatische Form erinnernde Dichtung erschienen: Bald er. Erster Theil. — Baldcr ist nicht der nordische Gott, sondern ein „Dichter" von 29 Jahren, der das ganze, sehr umfangreiche Gedicht hindurch den Leser mit Beschreibung seines Genius unterhält, und in der Selbstanbctung nahe bis zur Verrücktheit gekommen zu sein scheint. Natürlich ist -er Poet nnr in der Idee, von wirklichen Schöpfungen erfahren wir nichts. Es fehlt ihm noch eine Anschauung, die ihm wichtig ist: die Anschauung des Todes. Er wünscht diese recht nahe, womöglich in seiner Familie zu haben, um sie genauer beobachten zu können. Der Wunsch wird ihm erfüllt, sein Kind stirbt. Aber das genügt ihm noch nicht. Glücklicherweise ist auch seine Frau vou einem lebhaften Wunsch, zu sterben, erfüllt; sie wird nicht müde, den Leser mit ihrer etwas ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/126>, abgerufen am 22.12.2024.