Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.Die politische Situation. Die neueste Abstimmung der zweiten preußischen Kammer über die Anleihe Wir. nennen jenes Ereigniß den schwersten Schlag für die parlamentarische Der Ministerpräsident hat selber auf das bestimmteste bei der Einleitung Die Aufklärungen, welche der Commission von Seiten der Regierung ge¬ Die politische Situation. Die neueste Abstimmung der zweiten preußischen Kammer über die Anleihe Wir. nennen jenes Ereigniß den schwersten Schlag für die parlamentarische Der Ministerpräsident hat selber auf das bestimmteste bei der Einleitung Die Aufklärungen, welche der Commission von Seiten der Regierung ge¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0119" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/97899"/> </div> </div> <div n="1"> <head> Die politische Situation.</head><lb/> <p xml:id="ID_341"> Die neueste Abstimmung der zweiten preußischen Kammer über die Anleihe<lb/> ist ein so folgenschweres und für die parlamentarische Entwicklung Preußens so<lb/> bezeichnendes Ereigniß, daß wir es für nothwendig halten, auch von unsrem<lb/> Standpunkte ein Gutachten darüber zu geben, wenn wir auch von unsrem Korre¬<lb/> spondenten, der in der Mitte der Begebenheiten steht, eine eingehendere Kritik<lb/> erwarten. Für uns, die wir außerhalb der unmittelbaren Erregtheit stehen, scheint<lb/> es nothwendig, zweierlei zu constatiren: einmal, daß jene Abstimmung allerdings<lb/> der schwerste Schlag ist, der das parlamentarische Wesen getroffen hat, sodann<lb/> aber, daß wir darum noch immer nicht an unserer Lage verzweifeln dürfen.</p><lb/> <p xml:id="ID_342"> Wir. nennen jenes Ereigniß den schwersten Schlag für die parlamentarische<lb/> Entwicklung. Denn abgesehen davon, daß es einem Ministerium, welches sich<lb/> in keiner Weise gebunden hat, außerordentliche Mittel an die Hand gibt, eine<lb/> Politik zu verfolgen, die möglicherweise der Ueberzeugung des Volkes ganz ent¬<lb/> gegengesetzt ist, wirft es ein äußerst trübes Licht auf die Mündigkeit, die der<lb/> Constitutionalismus nach fünf Jahren mühevoller Anstrengung sich in Preußen<lb/> errungen hat. Der Sieg der rechten Seite über die linke in der Abstimmung<lb/> wird durch die einzelnen vortrefflichen und energischen Reden, die bei dieser Ge¬<lb/> legenheit von der Opposition gehalten sind, keineswegs abgeschwächt. Zum ersten<lb/> Mal seit ihrem Bestehen haben die preußischen Kammern ein großes, entschei¬<lb/> dendes und von keiner Seite angezweifeltes Recht in Beziehung ans die höhere<lb/> Politik auszuüben gehabt, und sie haben sich dieses Recht in der unschönsten<lb/> Form, die nur gedacht werden konnte, aus den Handen gleiten lassen.</p><lb/> <p xml:id="ID_343"> Der Ministerpräsident hat selber auf das bestimmteste bei der Einleitung<lb/> der Debatte erklärt, daß das Recht der Kammern, die angetragene Anleihe zu<lb/> verringern, außer Zweifel stehe. Diese Seite der Sache können wir also ganz<lb/> auf sich beruhen lassen. Die Kammern dürften nur überlegen, in welcher Weise<lb/> sie zum Wohl des Staates dieses Recht, das zugleich eine sehr ernste und schwere<lb/> Pflicht enthält, ausüben sollten.</p><lb/> <p xml:id="ID_344" next="#ID_345"> Die Aufklärungen, welche der Commission von Seiten der Regierung ge¬<lb/> geben sind, waren in keiner Weise ausreichend. Zwar hat der Kriegsminister in<lb/> ziemlich starken Ausdrücken seine Ansicht über die moralische Unmöglichkeit aus¬<lb/> gesprochen, daß Preuße» mit Rußland gehen könne, allein er sprach diese Ansicht<lb/> nicht im Namen der Regierung ans, sondern gleichsam theoretisch. Daß ein<lb/> einsichtsvoller General und ein guter Preuße, wie Herr v. Bonin, diese Ueber¬<lb/> zeugung haben mußte, darüber durfte eigentlich niemand in Zweifel sein, daß er<lb/> sie karr und offen aussprach, macht seinem Charakter alle Ehre; aber es gibt<lb/> den Kammern, welche jene Anleihe doch nicht aus ihrem Beutel, sondern ans</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0119]
Die politische Situation.
Die neueste Abstimmung der zweiten preußischen Kammer über die Anleihe
ist ein so folgenschweres und für die parlamentarische Entwicklung Preußens so
bezeichnendes Ereigniß, daß wir es für nothwendig halten, auch von unsrem
Standpunkte ein Gutachten darüber zu geben, wenn wir auch von unsrem Korre¬
spondenten, der in der Mitte der Begebenheiten steht, eine eingehendere Kritik
erwarten. Für uns, die wir außerhalb der unmittelbaren Erregtheit stehen, scheint
es nothwendig, zweierlei zu constatiren: einmal, daß jene Abstimmung allerdings
der schwerste Schlag ist, der das parlamentarische Wesen getroffen hat, sodann
aber, daß wir darum noch immer nicht an unserer Lage verzweifeln dürfen.
Wir. nennen jenes Ereigniß den schwersten Schlag für die parlamentarische
Entwicklung. Denn abgesehen davon, daß es einem Ministerium, welches sich
in keiner Weise gebunden hat, außerordentliche Mittel an die Hand gibt, eine
Politik zu verfolgen, die möglicherweise der Ueberzeugung des Volkes ganz ent¬
gegengesetzt ist, wirft es ein äußerst trübes Licht auf die Mündigkeit, die der
Constitutionalismus nach fünf Jahren mühevoller Anstrengung sich in Preußen
errungen hat. Der Sieg der rechten Seite über die linke in der Abstimmung
wird durch die einzelnen vortrefflichen und energischen Reden, die bei dieser Ge¬
legenheit von der Opposition gehalten sind, keineswegs abgeschwächt. Zum ersten
Mal seit ihrem Bestehen haben die preußischen Kammern ein großes, entschei¬
dendes und von keiner Seite angezweifeltes Recht in Beziehung ans die höhere
Politik auszuüben gehabt, und sie haben sich dieses Recht in der unschönsten
Form, die nur gedacht werden konnte, aus den Handen gleiten lassen.
Der Ministerpräsident hat selber auf das bestimmteste bei der Einleitung
der Debatte erklärt, daß das Recht der Kammern, die angetragene Anleihe zu
verringern, außer Zweifel stehe. Diese Seite der Sache können wir also ganz
auf sich beruhen lassen. Die Kammern dürften nur überlegen, in welcher Weise
sie zum Wohl des Staates dieses Recht, das zugleich eine sehr ernste und schwere
Pflicht enthält, ausüben sollten.
Die Aufklärungen, welche der Commission von Seiten der Regierung ge¬
geben sind, waren in keiner Weise ausreichend. Zwar hat der Kriegsminister in
ziemlich starken Ausdrücken seine Ansicht über die moralische Unmöglichkeit aus¬
gesprochen, daß Preuße» mit Rußland gehen könne, allein er sprach diese Ansicht
nicht im Namen der Regierung ans, sondern gleichsam theoretisch. Daß ein
einsichtsvoller General und ein guter Preuße, wie Herr v. Bonin, diese Ueber¬
zeugung haben mußte, darüber durfte eigentlich niemand in Zweifel sein, daß er
sie karr und offen aussprach, macht seinem Charakter alle Ehre; aber es gibt
den Kammern, welche jene Anleihe doch nicht aus ihrem Beutel, sondern ans
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