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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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Sonne stände still, sonder" die Erde. Aber sehen Sie, hochgeehrter Herr Pro¬
fessor, so stark war in diesem Mann die naturwissenschaftliche Ueberzeugung,
daß er seiner Empfindung Lust machen mußte und in die Worte ausbrach: "Und
sie bewegt sich doch!" So wird ein ehrlicher Maun, der sich gern ans die Na¬
turwissenschaft 'beschränken und der Theologie ganz fremd bleiben möchte, nothge-
drungen zum Antitheolvgen. Wenn Sie die Theologie werden bewegen können,
sich nnr mit solchen Dinge" zu beschäftigen, die nicht in den Kreis der Wissen¬
schaften fallen, dann können Sie versichert sein, daß es sehr bald keine Gegner
der Theologie mehr auf Erden geben wird. Freilich wird dann der Umfang der
theologischen Lehrbücher etwas kleiner werden. Wie die Sache jetzt steht, ist ein
Conflict für und wider nicht zu vermeiden, und wenn Kant bei jedem seiner
philosophischen Resultate hinzusetzt: "in theologischer Beziehung könne das ganz
anders sein," so werden Sie wol selber wissen, wie er das gemeint hat. --




Neueste musikalische Literatur.

Es liegen uns gleichzeitig zwei Broschüren vor, die zwei .entgegengesetzten
Richtungen angehören, nämlich das 6. Heft der "Fliegenden Blätter für
Musik" von dem "Wohlbekannten" (Leipzig, Baumgärtner) und das "Karls-
ruher.Musikfest" von Hvplit (Leipzig, Hinze). Das Princip, von welchem
der Wohlbekannte ausgeht, beruht darin, überall nachzufragen, was dem Publicum
gefällt, die Gründe dieses Gefallens zu entwickeln und ans denselben Regeln für
die Kunst zu abstrahiren. Daß in diesem Princip etwas Richtiges liegt, und
daß es namentlich in Deutschland, wo die Komponisten sehr geneigt sind, sich in
Stilübungen zu bewegen, die für sie allein ein Interesse haben könne", ganz am
Ort ist, a"f diese materielle Seite der Kunst hinzuweisen, wird niemand be¬
zweifeln. Selbst dagegen wollen wir nichts einwenden, daß er seine Regeln zum
Theil von Componisten abstrahirt, die bei unsern ernsten Musikern in keinem
besondern Ansehen stehe", z. B. vo" Flotow, Bellini, Lortzing n. s. w.: denn
wenn an sich nnr die Regel richtig ist, so kommt es nicht darauf an, ob der
Künstler, von dem sie hergenommen ist, i" alle" übrige" Beziehuiige" Beifall
verdient. Aber der Wohlbekannte vergißt, den Begriff des Publicums, über dessen
Urtheil er Beobachtungen anstellt, genauer zu definiren. Das Publicum, welches
er im Sinne hat, liebt leichte, einfache Melodien, einen sehr deutlich ausgesproche-
nen rhythmischen Gang, eine einfache Harmoniebewegung und eine gewisse Mun¬
terkeit in der ganzen Art und Weise zu componiren. Ein solches Publicum
gibt es in der That, uur ist es uicht so ausgedehnt, als der Wohlbekannte glaubt;
er könnte sich darüber am einfachsten belehre", wenn er irgend ni"ö von den


Sonne stände still, sonder» die Erde. Aber sehen Sie, hochgeehrter Herr Pro¬
fessor, so stark war in diesem Mann die naturwissenschaftliche Ueberzeugung,
daß er seiner Empfindung Lust machen mußte und in die Worte ausbrach: „Und
sie bewegt sich doch!" So wird ein ehrlicher Maun, der sich gern ans die Na¬
turwissenschaft 'beschränken und der Theologie ganz fremd bleiben möchte, nothge-
drungen zum Antitheolvgen. Wenn Sie die Theologie werden bewegen können,
sich nnr mit solchen Dinge» zu beschäftigen, die nicht in den Kreis der Wissen¬
schaften fallen, dann können Sie versichert sein, daß es sehr bald keine Gegner
der Theologie mehr auf Erden geben wird. Freilich wird dann der Umfang der
theologischen Lehrbücher etwas kleiner werden. Wie die Sache jetzt steht, ist ein
Conflict für und wider nicht zu vermeiden, und wenn Kant bei jedem seiner
philosophischen Resultate hinzusetzt: „in theologischer Beziehung könne das ganz
anders sein," so werden Sie wol selber wissen, wie er das gemeint hat. —




Neueste musikalische Literatur.

Es liegen uns gleichzeitig zwei Broschüren vor, die zwei .entgegengesetzten
Richtungen angehören, nämlich das 6. Heft der „Fliegenden Blätter für
Musik" von dem „Wohlbekannten" (Leipzig, Baumgärtner) und das „Karls-
ruher.Musikfest" von Hvplit (Leipzig, Hinze). Das Princip, von welchem
der Wohlbekannte ausgeht, beruht darin, überall nachzufragen, was dem Publicum
gefällt, die Gründe dieses Gefallens zu entwickeln und ans denselben Regeln für
die Kunst zu abstrahiren. Daß in diesem Princip etwas Richtiges liegt, und
daß es namentlich in Deutschland, wo die Komponisten sehr geneigt sind, sich in
Stilübungen zu bewegen, die für sie allein ein Interesse haben könne», ganz am
Ort ist, a»f diese materielle Seite der Kunst hinzuweisen, wird niemand be¬
zweifeln. Selbst dagegen wollen wir nichts einwenden, daß er seine Regeln zum
Theil von Componisten abstrahirt, die bei unsern ernsten Musikern in keinem
besondern Ansehen stehe», z. B. vo» Flotow, Bellini, Lortzing n. s. w.: denn
wenn an sich nnr die Regel richtig ist, so kommt es nicht darauf an, ob der
Künstler, von dem sie hergenommen ist, i» alle» übrige» Beziehuiige» Beifall
verdient. Aber der Wohlbekannte vergißt, den Begriff des Publicums, über dessen
Urtheil er Beobachtungen anstellt, genauer zu definiren. Das Publicum, welches
er im Sinne hat, liebt leichte, einfache Melodien, einen sehr deutlich ausgesproche-
nen rhythmischen Gang, eine einfache Harmoniebewegung und eine gewisse Mun¬
terkeit in der ganzen Art und Weise zu componiren. Ein solches Publicum
gibt es in der That, uur ist es uicht so ausgedehnt, als der Wohlbekannte glaubt;
er könnte sich darüber am einfachsten belehre», wenn er irgend ni»ö von den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/68>, abgerufen am 22.07.2024.