Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

viele, viele Male, zu jenen Gesellschaften (convsrsa/ioni), jenen Festen, die Ver¬
anlassung zu so vielen Sünden waren? lit n. s. w. Mit dieser Zunge, mit der
ich so viele, viele Male Uebles redete vom Priesterthum, von der Religion, vom
Glauben; den Namen Gottes und der Heiligen mißbrauchte; mit der ich Böses
sagte von dieser Jungfrau, vou jeuer Wittwe; mit der ich das Recht verdrehte,
Meineide schwur' -- Le in paruo weo. viäobo clönrn enorm? -- O meine lieben
Zuhörer, welches Grauen erweckt der bloße Gedanke an den jüngsten Tag! Der
heilige Bernhard hat gesagt, daß er nicht ohne Grauen an den Augenblick zu
denken vermöge, wann eine Stimme rufen werde: Dies ist Bernhard und seine
Thaten! Ein wieviel größerer Schrecken muß mich, muß Euch bei diesem Ge¬
danken ergreifen! Wie werden wir empfinden, wann ich Eure Schuld (oolize)
erblicken werde und Ihr, die meinige? Wie wird uns sein, wenn geöffnet sein
werden die Bücher der Herzen (i libri ävlltz eosciLn/e) -- et, aporti sunt libri?
Wie wird uns sein, wenn wir unser Innerstes offenbaren müssen vor allen Völ¬
kern der Erde, vor Türken, Heide", Protestanten, Juden, katholischen Christen? --
Ich habe die Geschichte eines Mädchens gelesen, das aus Furcht vor bloßer irdischer
Schande sich ums Leben brachte. Ihre Seelsorger (clirvttoi'I) hatten sie oft gewarnt,
Orte zu besuchen, die der Tugend gefährlich find, vergebens, sie wollte nicht hören.
Sie beging einen schweren Fehltritt. Umsonst waren ihre Bitten an ihren Lieb¬
haber, ihre Ehre zu retten; die Aermste fühlte sich nicht fähig, ihre Schande zu
ertragen, so bat sie denn den, der sie ins Unglück gestürzt halte, um Gift, und
der Grausame gab es ihr. So starb sie, um ihre Schande der Welt zu ver¬
bergen. Aber wird am jüngsten Tage ihre Schande verborgen sein? -- Denkt
Euch, meine, Lieben, daß ich, jetzt plötzlich von Gott erleuchtet, sagen könnte:
diese Person, die an dieser Stelle steht, von diesem Alter, diesem Namen, hat
an dem und dem vergangenen Tage den und den schweren Fehltritt begangen --
welche Schande würde das sein, schon vor so wenigen, in diesem Amphitheater!
Aber denkt Euch nun, ich könnte ganz Rom vereinigen und dann den Sünder
entlarven! Denkt Euch, ich könnte die ganze gegenwärtige Welt vereinigen --
wie ungeheuer wächst die Schande, und doch wie unermeßlich klein ist auch diese
verglichen mit der Schande der sündigen Seele am jüngsten Tage! -- Wenn wir
im Bewußtsein unserer Verdammniß'stehen müßten vor Himmel und Erde, vor
Gott, Engeln und Teufeln, vor allen menschlichen Generationen seit der Er¬
schaffung -- dann würden wir wünschen, daß die Berge auf uns stürzten und
uns begruben, die Erde zu Unsern Füßen sich öffnete. Darum laßt uns streben,
durch Buße und Gebet unsere Seelen zu reinigen, von dem Makel der Schuld
zu befreien, laßt uns unaufhörlich mit bittern Thränen unsere Sünden beweinen!

Nun wendet er sich mit einem leidenschaftlichen Gebet an das neben ihm
aufgepflanzte Crucifix, dann spricht er ein Buß- und Nengebet und Gelübde
fortan nicht zu fündigen den Zuhörern vor, die es auf Knien Wort für Wort


viele, viele Male, zu jenen Gesellschaften (convsrsa/ioni), jenen Festen, die Ver¬
anlassung zu so vielen Sünden waren? lit n. s. w. Mit dieser Zunge, mit der
ich so viele, viele Male Uebles redete vom Priesterthum, von der Religion, vom
Glauben; den Namen Gottes und der Heiligen mißbrauchte; mit der ich Böses
sagte von dieser Jungfrau, vou jeuer Wittwe; mit der ich das Recht verdrehte,
Meineide schwur' — Le in paruo weo. viäobo clönrn enorm? — O meine lieben
Zuhörer, welches Grauen erweckt der bloße Gedanke an den jüngsten Tag! Der
heilige Bernhard hat gesagt, daß er nicht ohne Grauen an den Augenblick zu
denken vermöge, wann eine Stimme rufen werde: Dies ist Bernhard und seine
Thaten! Ein wieviel größerer Schrecken muß mich, muß Euch bei diesem Ge¬
danken ergreifen! Wie werden wir empfinden, wann ich Eure Schuld (oolize)
erblicken werde und Ihr, die meinige? Wie wird uns sein, wenn geöffnet sein
werden die Bücher der Herzen (i libri ävlltz eosciLn/e) — et, aporti sunt libri?
Wie wird uns sein, wenn wir unser Innerstes offenbaren müssen vor allen Völ¬
kern der Erde, vor Türken, Heide», Protestanten, Juden, katholischen Christen? —
Ich habe die Geschichte eines Mädchens gelesen, das aus Furcht vor bloßer irdischer
Schande sich ums Leben brachte. Ihre Seelsorger (clirvttoi'I) hatten sie oft gewarnt,
Orte zu besuchen, die der Tugend gefährlich find, vergebens, sie wollte nicht hören.
Sie beging einen schweren Fehltritt. Umsonst waren ihre Bitten an ihren Lieb¬
haber, ihre Ehre zu retten; die Aermste fühlte sich nicht fähig, ihre Schande zu
ertragen, so bat sie denn den, der sie ins Unglück gestürzt halte, um Gift, und
der Grausame gab es ihr. So starb sie, um ihre Schande der Welt zu ver¬
bergen. Aber wird am jüngsten Tage ihre Schande verborgen sein? — Denkt
Euch, meine, Lieben, daß ich, jetzt plötzlich von Gott erleuchtet, sagen könnte:
diese Person, die an dieser Stelle steht, von diesem Alter, diesem Namen, hat
an dem und dem vergangenen Tage den und den schweren Fehltritt begangen —
welche Schande würde das sein, schon vor so wenigen, in diesem Amphitheater!
Aber denkt Euch nun, ich könnte ganz Rom vereinigen und dann den Sünder
entlarven! Denkt Euch, ich könnte die ganze gegenwärtige Welt vereinigen —
wie ungeheuer wächst die Schande, und doch wie unermeßlich klein ist auch diese
verglichen mit der Schande der sündigen Seele am jüngsten Tage! — Wenn wir
im Bewußtsein unserer Verdammniß'stehen müßten vor Himmel und Erde, vor
Gott, Engeln und Teufeln, vor allen menschlichen Generationen seit der Er¬
schaffung — dann würden wir wünschen, daß die Berge auf uns stürzten und
uns begruben, die Erde zu Unsern Füßen sich öffnete. Darum laßt uns streben,
durch Buße und Gebet unsere Seelen zu reinigen, von dem Makel der Schuld
zu befreien, laßt uns unaufhörlich mit bittern Thränen unsere Sünden beweinen!

Nun wendet er sich mit einem leidenschaftlichen Gebet an das neben ihm
aufgepflanzte Crucifix, dann spricht er ein Buß- und Nengebet und Gelübde
fortan nicht zu fündigen den Zuhörern vor, die es auf Knien Wort für Wort


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0492" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/97738"/>
          <p xml:id="ID_1408" prev="#ID_1407"> viele, viele Male, zu jenen Gesellschaften (convsrsa/ioni), jenen Festen, die Ver¬<lb/>
anlassung zu so vielen Sünden waren? lit n. s. w. Mit dieser Zunge, mit der<lb/>
ich so viele, viele Male Uebles redete vom Priesterthum, von der Religion, vom<lb/>
Glauben; den Namen Gottes und der Heiligen mißbrauchte; mit der ich Böses<lb/>
sagte von dieser Jungfrau, vou jeuer Wittwe; mit der ich das Recht verdrehte,<lb/>
Meineide schwur' &#x2014; Le in paruo weo. viäobo clönrn enorm? &#x2014; O meine lieben<lb/>
Zuhörer, welches Grauen erweckt der bloße Gedanke an den jüngsten Tag! Der<lb/>
heilige Bernhard hat gesagt, daß er nicht ohne Grauen an den Augenblick zu<lb/>
denken vermöge, wann eine Stimme rufen werde: Dies ist Bernhard und seine<lb/>
Thaten! Ein wieviel größerer Schrecken muß mich, muß Euch bei diesem Ge¬<lb/>
danken ergreifen! Wie werden wir empfinden, wann ich Eure Schuld (oolize)<lb/>
erblicken werde und Ihr, die meinige? Wie wird uns sein, wenn geöffnet sein<lb/>
werden die Bücher der Herzen (i libri ävlltz eosciLn/e) &#x2014; et, aporti sunt libri?<lb/>
Wie wird uns sein, wenn wir unser Innerstes offenbaren müssen vor allen Völ¬<lb/>
kern der Erde, vor Türken, Heide», Protestanten, Juden, katholischen Christen? &#x2014;<lb/>
Ich habe die Geschichte eines Mädchens gelesen, das aus Furcht vor bloßer irdischer<lb/>
Schande sich ums Leben brachte. Ihre Seelsorger (clirvttoi'I) hatten sie oft gewarnt,<lb/>
Orte zu besuchen, die der Tugend gefährlich find, vergebens, sie wollte nicht hören.<lb/>
Sie beging einen schweren Fehltritt. Umsonst waren ihre Bitten an ihren Lieb¬<lb/>
haber, ihre Ehre zu retten; die Aermste fühlte sich nicht fähig, ihre Schande zu<lb/>
ertragen, so bat sie denn den, der sie ins Unglück gestürzt halte, um Gift, und<lb/>
der Grausame gab es ihr. So starb sie, um ihre Schande der Welt zu ver¬<lb/>
bergen. Aber wird am jüngsten Tage ihre Schande verborgen sein? &#x2014; Denkt<lb/>
Euch, meine, Lieben, daß ich, jetzt plötzlich von Gott erleuchtet, sagen könnte:<lb/>
diese Person, die an dieser Stelle steht, von diesem Alter, diesem Namen, hat<lb/>
an dem und dem vergangenen Tage den und den schweren Fehltritt begangen &#x2014;<lb/>
welche Schande würde das sein, schon vor so wenigen, in diesem Amphitheater!<lb/>
Aber denkt Euch nun, ich könnte ganz Rom vereinigen und dann den Sünder<lb/>
entlarven! Denkt Euch, ich könnte die ganze gegenwärtige Welt vereinigen &#x2014;<lb/>
wie ungeheuer wächst die Schande, und doch wie unermeßlich klein ist auch diese<lb/>
verglichen mit der Schande der sündigen Seele am jüngsten Tage! &#x2014; Wenn wir<lb/>
im Bewußtsein unserer Verdammniß'stehen müßten vor Himmel und Erde, vor<lb/>
Gott, Engeln und Teufeln, vor allen menschlichen Generationen seit der Er¬<lb/>
schaffung &#x2014; dann würden wir wünschen, daß die Berge auf uns stürzten und<lb/>
uns begruben, die Erde zu Unsern Füßen sich öffnete. Darum laßt uns streben,<lb/>
durch Buße und Gebet unsere Seelen zu reinigen, von dem Makel der Schuld<lb/>
zu befreien, laßt uns unaufhörlich mit bittern Thränen unsere Sünden beweinen!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1409" next="#ID_1410"> Nun wendet er sich mit einem leidenschaftlichen Gebet an das neben ihm<lb/>
aufgepflanzte Crucifix, dann spricht er ein Buß- und Nengebet und Gelübde<lb/>
fortan nicht zu fündigen den Zuhörern vor, die es auf Knien Wort für Wort</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0492] viele, viele Male, zu jenen Gesellschaften (convsrsa/ioni), jenen Festen, die Ver¬ anlassung zu so vielen Sünden waren? lit n. s. w. Mit dieser Zunge, mit der ich so viele, viele Male Uebles redete vom Priesterthum, von der Religion, vom Glauben; den Namen Gottes und der Heiligen mißbrauchte; mit der ich Böses sagte von dieser Jungfrau, vou jeuer Wittwe; mit der ich das Recht verdrehte, Meineide schwur' — Le in paruo weo. viäobo clönrn enorm? — O meine lieben Zuhörer, welches Grauen erweckt der bloße Gedanke an den jüngsten Tag! Der heilige Bernhard hat gesagt, daß er nicht ohne Grauen an den Augenblick zu denken vermöge, wann eine Stimme rufen werde: Dies ist Bernhard und seine Thaten! Ein wieviel größerer Schrecken muß mich, muß Euch bei diesem Ge¬ danken ergreifen! Wie werden wir empfinden, wann ich Eure Schuld (oolize) erblicken werde und Ihr, die meinige? Wie wird uns sein, wenn geöffnet sein werden die Bücher der Herzen (i libri ävlltz eosciLn/e) — et, aporti sunt libri? Wie wird uns sein, wenn wir unser Innerstes offenbaren müssen vor allen Völ¬ kern der Erde, vor Türken, Heide», Protestanten, Juden, katholischen Christen? — Ich habe die Geschichte eines Mädchens gelesen, das aus Furcht vor bloßer irdischer Schande sich ums Leben brachte. Ihre Seelsorger (clirvttoi'I) hatten sie oft gewarnt, Orte zu besuchen, die der Tugend gefährlich find, vergebens, sie wollte nicht hören. Sie beging einen schweren Fehltritt. Umsonst waren ihre Bitten an ihren Lieb¬ haber, ihre Ehre zu retten; die Aermste fühlte sich nicht fähig, ihre Schande zu ertragen, so bat sie denn den, der sie ins Unglück gestürzt halte, um Gift, und der Grausame gab es ihr. So starb sie, um ihre Schande der Welt zu ver¬ bergen. Aber wird am jüngsten Tage ihre Schande verborgen sein? — Denkt Euch, meine, Lieben, daß ich, jetzt plötzlich von Gott erleuchtet, sagen könnte: diese Person, die an dieser Stelle steht, von diesem Alter, diesem Namen, hat an dem und dem vergangenen Tage den und den schweren Fehltritt begangen — welche Schande würde das sein, schon vor so wenigen, in diesem Amphitheater! Aber denkt Euch nun, ich könnte ganz Rom vereinigen und dann den Sünder entlarven! Denkt Euch, ich könnte die ganze gegenwärtige Welt vereinigen — wie ungeheuer wächst die Schande, und doch wie unermeßlich klein ist auch diese verglichen mit der Schande der sündigen Seele am jüngsten Tage! — Wenn wir im Bewußtsein unserer Verdammniß'stehen müßten vor Himmel und Erde, vor Gott, Engeln und Teufeln, vor allen menschlichen Generationen seit der Er¬ schaffung — dann würden wir wünschen, daß die Berge auf uns stürzten und uns begruben, die Erde zu Unsern Füßen sich öffnete. Darum laßt uns streben, durch Buße und Gebet unsere Seelen zu reinigen, von dem Makel der Schuld zu befreien, laßt uns unaufhörlich mit bittern Thränen unsere Sünden beweinen! Nun wendet er sich mit einem leidenschaftlichen Gebet an das neben ihm aufgepflanzte Crucifix, dann spricht er ein Buß- und Nengebet und Gelübde fortan nicht zu fündigen den Zuhörern vor, die es auf Knien Wort für Wort

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/492
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/492>, abgerufen am 25.06.2024.