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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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Ludwig Tieck's gesammelte Novellen. 9. Bd. Berlin, Georg Reimer. --

Der vorliegende Band enthält die Novellen: "der Schutzgeist" (-1839),
"die Klansenbnrg" (1837), "Abendgespräche" (1839), "Wunderlichkeiten" (1837),
nud "die Glocke von Arragon" (1839). Die interessanteste Novelle dieser Samm¬
lung sind die "Wunderlichkeiten", in denen die Eigenthümlichkeit der romantischen
Production, alles eben Geschaffene augenblicklich wieder aufzulösen, auf eine höchst
charakteristische Weise sich darstellt. Die Virtuosität, mit welcher der Dichter alle
scheinbare Wirklichkeit in Lüge, Traum nud Unsinn verflüchtigt, hat er vielleicht
in keinem andern seiner Werke mit einem so großen Behagen an den Tag gelegt.
Diese Art von Romantik müssen wir im Ange behalten, wenn wir die neueren
Productionen, wie z. B. den oben besprochenen "grünen Heinrich" historisch be¬
greifen wollen. Es ist die Verkehrung der Principien, wie wir sie in dem Grade
mir in Deutschland finden. Die Dichtung hat ihre Aufgabe mit der Kritik ver¬
tauscht; sie ist analytisch geworden, während jene sich bemüht, synthetisch zu sei",
woraus in beiden Fällen das Gegentheil der beabsichtigten Wirkung hervorgeht.
Denn wenn wir im Genuß eines Kunstwerks unsern Scharfsinn und in der Kritik
unsere Phantasie anstrengen sollen, so empfinden wir in beiden Fällen, daß un¬
serm Seelenvermögen Gewalt angethan wird. -- Die übrigen Novellen sind un¬
bedeutend, sie sind ganz ans das gewöhnliche Bedürfniß des Lesepublicnms berechnet.
Einige interessante kritische Bemerkungen finden sich in den Abendgesprächen. --




Die Stellung der Niederlande zu Deutschland.

Das Wort des jüngeren PitteS: "die Finanzen sind die Seele Englands",
läßt sich in demselben Maße ans die Niederlande anwenden, da die auswärtige
nud Colonialpolitik der Niederlande fast ganz von dem außergewöhnlichen Zu¬
stande ihrer Finanzen abhängig sind.

Als die Republik der vereinigten niederländischen Staaten dem Sturme der
französischen Revolution erlag, war sie factisch seit einem starken halbe" Jahrhundert
nur "och el" geduldetes Glied deS europäische" Staatensystems gewesen, welches
nicht dnrch eigne Kraft, sonder" durch der Mächtige" Eifersucht fortlebte, ähnlich
wie jetzt die Türkei. Während dieses Zeitraums bildete sich die zum guten Theil
noch jetzt in derselben Weise bestehende auswärtige und Colonialpolitik der Nie¬
derlande a"S.

Als im Jahre 181ü das Königreich der Niederlande geschaffen ward, be¬
stand alle Aussicht, daß der neue Staat andere Grundsätze in -seiner äußern und
Colvlualpvlitik befolgen könne, als die> der Niederlande im vorigen Jahrhundert;
denn die materiellen Kräfte waren jetzt vorhanden, um aus der geduldete" in die


Ludwig Tieck's gesammelte Novellen. 9. Bd. Berlin, Georg Reimer. —

Der vorliegende Band enthält die Novellen: „der Schutzgeist" (-1839),
„die Klansenbnrg" (1837), „Abendgespräche" (1839), „Wunderlichkeiten" (1837),
nud „die Glocke von Arragon" (1839). Die interessanteste Novelle dieser Samm¬
lung sind die „Wunderlichkeiten", in denen die Eigenthümlichkeit der romantischen
Production, alles eben Geschaffene augenblicklich wieder aufzulösen, auf eine höchst
charakteristische Weise sich darstellt. Die Virtuosität, mit welcher der Dichter alle
scheinbare Wirklichkeit in Lüge, Traum nud Unsinn verflüchtigt, hat er vielleicht
in keinem andern seiner Werke mit einem so großen Behagen an den Tag gelegt.
Diese Art von Romantik müssen wir im Ange behalten, wenn wir die neueren
Productionen, wie z. B. den oben besprochenen „grünen Heinrich" historisch be¬
greifen wollen. Es ist die Verkehrung der Principien, wie wir sie in dem Grade
mir in Deutschland finden. Die Dichtung hat ihre Aufgabe mit der Kritik ver¬
tauscht; sie ist analytisch geworden, während jene sich bemüht, synthetisch zu sei»,
woraus in beiden Fällen das Gegentheil der beabsichtigten Wirkung hervorgeht.
Denn wenn wir im Genuß eines Kunstwerks unsern Scharfsinn und in der Kritik
unsere Phantasie anstrengen sollen, so empfinden wir in beiden Fällen, daß un¬
serm Seelenvermögen Gewalt angethan wird. — Die übrigen Novellen sind un¬
bedeutend, sie sind ganz ans das gewöhnliche Bedürfniß des Lesepublicnms berechnet.
Einige interessante kritische Bemerkungen finden sich in den Abendgesprächen. —




Die Stellung der Niederlande zu Deutschland.

Das Wort des jüngeren PitteS: „die Finanzen sind die Seele Englands",
läßt sich in demselben Maße ans die Niederlande anwenden, da die auswärtige
nud Colonialpolitik der Niederlande fast ganz von dem außergewöhnlichen Zu¬
stande ihrer Finanzen abhängig sind.

Als die Republik der vereinigten niederländischen Staaten dem Sturme der
französischen Revolution erlag, war sie factisch seit einem starken halbe» Jahrhundert
nur »och el» geduldetes Glied deS europäische» Staatensystems gewesen, welches
nicht dnrch eigne Kraft, sonder» durch der Mächtige» Eifersucht fortlebte, ähnlich
wie jetzt die Türkei. Während dieses Zeitraums bildete sich die zum guten Theil
noch jetzt in derselben Weise bestehende auswärtige und Colonialpolitik der Nie¬
derlande a»S.

Als im Jahre 181ü das Königreich der Niederlande geschaffen ward, be¬
stand alle Aussicht, daß der neue Staat andere Grundsätze in -seiner äußern und
Colvlualpvlitik befolgen könne, als die> der Niederlande im vorigen Jahrhundert;
denn die materiellen Kräfte waren jetzt vorhanden, um aus der geduldete» in die


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[0416] Ludwig Tieck's gesammelte Novellen. 9. Bd. Berlin, Georg Reimer. — Der vorliegende Band enthält die Novellen: „der Schutzgeist" (-1839), „die Klansenbnrg" (1837), „Abendgespräche" (1839), „Wunderlichkeiten" (1837), nud „die Glocke von Arragon" (1839). Die interessanteste Novelle dieser Samm¬ lung sind die „Wunderlichkeiten", in denen die Eigenthümlichkeit der romantischen Production, alles eben Geschaffene augenblicklich wieder aufzulösen, auf eine höchst charakteristische Weise sich darstellt. Die Virtuosität, mit welcher der Dichter alle scheinbare Wirklichkeit in Lüge, Traum nud Unsinn verflüchtigt, hat er vielleicht in keinem andern seiner Werke mit einem so großen Behagen an den Tag gelegt. Diese Art von Romantik müssen wir im Ange behalten, wenn wir die neueren Productionen, wie z. B. den oben besprochenen „grünen Heinrich" historisch be¬ greifen wollen. Es ist die Verkehrung der Principien, wie wir sie in dem Grade mir in Deutschland finden. Die Dichtung hat ihre Aufgabe mit der Kritik ver¬ tauscht; sie ist analytisch geworden, während jene sich bemüht, synthetisch zu sei», woraus in beiden Fällen das Gegentheil der beabsichtigten Wirkung hervorgeht. Denn wenn wir im Genuß eines Kunstwerks unsern Scharfsinn und in der Kritik unsere Phantasie anstrengen sollen, so empfinden wir in beiden Fällen, daß un¬ serm Seelenvermögen Gewalt angethan wird. — Die übrigen Novellen sind un¬ bedeutend, sie sind ganz ans das gewöhnliche Bedürfniß des Lesepublicnms berechnet. Einige interessante kritische Bemerkungen finden sich in den Abendgesprächen. — Die Stellung der Niederlande zu Deutschland. Das Wort des jüngeren PitteS: „die Finanzen sind die Seele Englands", läßt sich in demselben Maße ans die Niederlande anwenden, da die auswärtige nud Colonialpolitik der Niederlande fast ganz von dem außergewöhnlichen Zu¬ stande ihrer Finanzen abhängig sind. Als die Republik der vereinigten niederländischen Staaten dem Sturme der französischen Revolution erlag, war sie factisch seit einem starken halbe» Jahrhundert nur »och el» geduldetes Glied deS europäische» Staatensystems gewesen, welches nicht dnrch eigne Kraft, sonder» durch der Mächtige» Eifersucht fortlebte, ähnlich wie jetzt die Türkei. Während dieses Zeitraums bildete sich die zum guten Theil noch jetzt in derselben Weise bestehende auswärtige und Colonialpolitik der Nie¬ derlande a»S. Als im Jahre 181ü das Königreich der Niederlande geschaffen ward, be¬ stand alle Aussicht, daß der neue Staat andere Grundsätze in -seiner äußern und Colvlualpvlitik befolgen könne, als die> der Niederlande im vorigen Jahrhundert; denn die materiellen Kräfte waren jetzt vorhanden, um aus der geduldete» in die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/416>, abgerufen am 03.07.2024.