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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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unbestimmte Ncbelgebilde zerfließen. Es ist das vielleicht der Fehler eines jungen
Dichters, der so eilig als möglich alles, was er über das Menschenleben Bedeu¬
tendes gedacht hat, an den Mann zu bringen strebt. Allein diese Form wider-
strebt der epischen Poesie. Zuerst wollen wir über die Personen und Zustände,
in die uns die Geschichte einführen soll, klar und bestimmt orientirt sein, ehe wir
zu Betrachtungen darüber angeregt werden. Erst muß ein Stoff vorhanden sein,
ehe wir dem Dichter verstatten, daran seinen Witz auszuüben! Zudem stört es
unsere Unbefangenheit, in jedem einzelnen Fall sogleich an eine allgemeine Maxime
erinnert zu werden, welche demselben zu Grunde liegt. Wir wollen in der Kunst
der ewigen Reflexion entfliehen und in das Reich der bestimmten Erscheinung
eingeführt werden, wenn uns auch diese Erscheinung später wieder zum Gedanken
zurückführt. Die individuelle Erscheinung' muß uus erst als solche gefesselt haben,
ehe wir darau denken können, das anatomische Messer anzulegen, und jede Re¬
flexion ist eine Zersetzung des Lebens. -- Sodann sind die Reflexionen, so viel
Interesse sie auch im einzelnen erregen, doch nicht immer aus dem bestimmten
Fall hervorgegangen; man fühlt es zuweilen, daß sie von außen hineingetragen
werden, man merkt die Absicht und man wird verstimmt. Endlich verfällt der
Dichter in den Fehler, in seinen Gedanken zu hastig dem Auffallende" und Un¬
gewöhnlichen nachzustreben. Die einfache Betrachtung genügt ihm niemals. In
seiner Phantasie bewegt sich neben der wirklichen immer eine symbolische Welt,
auf welche sich die endliche bezieht, und daraus geht ein doppelter Fehler hervor,
theils eine Verkleidung des Unbedeutenden in paradoxe Wendungen, theils jene
Verkettung unvermittelter Begriffe, die immer auf eine Halbwahrheit he'raus-
kommen.

Was nnn die Schilderungen betrifft, so sind sie zuweilen vou einem ganz
wunderbaren Zauber. Der Dichter hat eine leicht bewegliche Phantasie und ver-
. tieft sich in jede neue Situation, die er erfindet, mit aller Heftigkeit eines stark
reproducirenden Nervensystems. Ohne ungewöhnliche Striche und grelle Farben
anzuwenden, weiß er vor unserer Seele schnell und sicher ein lebendiges Bild zu
entfalten. Aber'die Freude an diesen Bildern wird zuweilen dadurch gestört, daß
sie ohne Vermittelung in uns aufgehen und ebenso schnell wieder verschwinden,
als sie gekommen sind. Es fehlt die behagliche Ruhe der Erzählung, die allein
den bleibende" Genuß vermittelt. Wir wollen im Roman von jedem Bilde deit
Eindruck habe", daß es ein wesentliches Moment in der Entwickelung der Ge¬
schichte sein wird. Aber hier begegnet es uns fast überall, daß die einzelnen Dar¬
stellungen uus als bloße Erscheinungen vorkommen, die keine" Sinn mehr habe",
sobald sie vorüber sind. Die Kunst, wirkliche Charaktere zu bilden, und ans
ihnen mit fester, sicherer Hand die einzelnen Erscheinungen herzuleiten, hat der
Dichter noch nicht gelernt.

Die Sprache des Romans ist an einzelnen Stellen vortrefflich, aber das zu


unbestimmte Ncbelgebilde zerfließen. Es ist das vielleicht der Fehler eines jungen
Dichters, der so eilig als möglich alles, was er über das Menschenleben Bedeu¬
tendes gedacht hat, an den Mann zu bringen strebt. Allein diese Form wider-
strebt der epischen Poesie. Zuerst wollen wir über die Personen und Zustände,
in die uns die Geschichte einführen soll, klar und bestimmt orientirt sein, ehe wir
zu Betrachtungen darüber angeregt werden. Erst muß ein Stoff vorhanden sein,
ehe wir dem Dichter verstatten, daran seinen Witz auszuüben! Zudem stört es
unsere Unbefangenheit, in jedem einzelnen Fall sogleich an eine allgemeine Maxime
erinnert zu werden, welche demselben zu Grunde liegt. Wir wollen in der Kunst
der ewigen Reflexion entfliehen und in das Reich der bestimmten Erscheinung
eingeführt werden, wenn uns auch diese Erscheinung später wieder zum Gedanken
zurückführt. Die individuelle Erscheinung' muß uus erst als solche gefesselt haben,
ehe wir darau denken können, das anatomische Messer anzulegen, und jede Re¬
flexion ist eine Zersetzung des Lebens. — Sodann sind die Reflexionen, so viel
Interesse sie auch im einzelnen erregen, doch nicht immer aus dem bestimmten
Fall hervorgegangen; man fühlt es zuweilen, daß sie von außen hineingetragen
werden, man merkt die Absicht und man wird verstimmt. Endlich verfällt der
Dichter in den Fehler, in seinen Gedanken zu hastig dem Auffallende» und Un¬
gewöhnlichen nachzustreben. Die einfache Betrachtung genügt ihm niemals. In
seiner Phantasie bewegt sich neben der wirklichen immer eine symbolische Welt,
auf welche sich die endliche bezieht, und daraus geht ein doppelter Fehler hervor,
theils eine Verkleidung des Unbedeutenden in paradoxe Wendungen, theils jene
Verkettung unvermittelter Begriffe, die immer auf eine Halbwahrheit he'raus-
kommen.

Was nnn die Schilderungen betrifft, so sind sie zuweilen vou einem ganz
wunderbaren Zauber. Der Dichter hat eine leicht bewegliche Phantasie und ver-
. tieft sich in jede neue Situation, die er erfindet, mit aller Heftigkeit eines stark
reproducirenden Nervensystems. Ohne ungewöhnliche Striche und grelle Farben
anzuwenden, weiß er vor unserer Seele schnell und sicher ein lebendiges Bild zu
entfalten. Aber'die Freude an diesen Bildern wird zuweilen dadurch gestört, daß
sie ohne Vermittelung in uns aufgehen und ebenso schnell wieder verschwinden,
als sie gekommen sind. Es fehlt die behagliche Ruhe der Erzählung, die allein
den bleibende» Genuß vermittelt. Wir wollen im Roman von jedem Bilde deit
Eindruck habe», daß es ein wesentliches Moment in der Entwickelung der Ge¬
schichte sein wird. Aber hier begegnet es uns fast überall, daß die einzelnen Dar¬
stellungen uus als bloße Erscheinungen vorkommen, die keine» Sinn mehr habe»,
sobald sie vorüber sind. Die Kunst, wirkliche Charaktere zu bilden, und ans
ihnen mit fester, sicherer Hand die einzelnen Erscheinungen herzuleiten, hat der
Dichter noch nicht gelernt.

Die Sprache des Romans ist an einzelnen Stellen vortrefflich, aber das zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/410>, abgerufen am 03.07.2024.