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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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liebe" Geist der Pflicht ist Tugend, denn beides wäre eine wahnsinnige Illusion,
sondern die völlige E"tsag""g und das Mitleid. In dem Mitleid empfindet der
einzelne Geist das Elend des allgemeinen Geistes und erfüllt dadurch seine Be¬
stimmung, wie denn auch die Tragödie, die Darstellung vo" dem allgemeinen Elend
der Welt, die höchste Form der Kunst sei; in der völligen Entsagung hasse der
Mensch das, was allein hassenswerth sei, das Leben und seine Mächte. Man
vergleiche das Citat aus Schopenhauer (S. 288): "Die Erscheinung des Willens
zum Leben ist die Welt; das Dasein selbst und die Art des Daseins in der
Gesammtheit wie in jedem Theil ist allein ans dem Willen. Er ist frei, er ist
allmächtig. In jedem Dinge erscheint der Wille grade so, wie er sich selbst an
sich und anßer der Zeit bestimmt. Die Welt ist nur der Spiegel dieses Wollens,
"ut alle Endlichkeit, alle Leiden, alle Qualen, welche sie enthält, gehören zum
Ausdruck dessen, was er will, sind so, weil er so will. Mit dem strengsten Recht
trägt sonach jedes Wesen das Dasei" überhaupt; sodann das Dasein seiner
Art und seiner eigenthümlichen Individualität, ganz wie sie ist und unter
Umgebungen, wie sie sind, in einer Welt so wie sie ist, vom Zufall und vom Irr¬
thum beherrscht, zeitlich, vergänglich, stets leidend: und in allem, was ihm wider¬
fährt, ja mir widerfahren kann, geschieht ihm immer Recht. Denn sein ist der
Wille, und wie der Wille ist, so ist die Welt." -- Ferner S. 292: "So lange
unser Wille derselbe ist, kann unsere Welt keine andere sein. Zwar wünschen alle
erlöst zu werden aus dem Zustande des Leidens und des Todes: sie möchten,
wie man sagt, zur ewigen Seligkeit gelangen, ins Himmelreich komme"; aber
nur nicht auf eigenen Füßen, sondern hineingetragen möchten sie werden durch
den Lauf der Natur. Allein das ist unmöglich, denn die Natur ist nnr das Ab¬
bild, der Schatten unseres Willens. Daher wird sie zwar uns nie fallen und
zu Nichts werden lasse", aber sie kann uns nirgends hinbringen, als immer nnr
wieder in die Natur. Wie mißlich es jedoch ist, als ein Theil der Natur zu
existiren, erfährt jeder an seinem eigenen Leben und Streben. Nur die totale
Verneinung des Willens zum Leben, in dessen Bejahung die Na¬
tur die Quelle ihres Daseins hat, kann zur wirklichen Erlösung der
Welt führen. Zu diesem hohen Ziel bilden die Tugenden nur die Brücke, sie
sind zuvörderst nur ein Anzeichen, daß der erscheinende Wille nicht mehr ganz
fest in jenem Wahn des rü-meipü inäivicZuationig befangen ist, sondern die Ent¬
täuschung schon eintritt----Wer von der Tugend des Mitleids beseelt ist,
hat sein eigenes Wesen in jedem andern wiedererkannt. Dadurch nnn identificirt
er sein eigenes Loos mit dem der Menschheit überhaupt. Dieses uun aber ist
el" hartes Loos, das des Mühens, Leidens und Sterbens. Wer also, indem er
jedem zufälligen Vortheil entsagt, für sich kein anderes, als das Loos der Mensch¬
heit überhaupt will, kaun auch dieses nicht lange mehr wollen; die Anhänglichkeit
a" das Leben n"d seine Genüsse muß je^t bald weichen und einer allgemeine"


liebe» Geist der Pflicht ist Tugend, denn beides wäre eine wahnsinnige Illusion,
sondern die völlige E»tsag»»g und das Mitleid. In dem Mitleid empfindet der
einzelne Geist das Elend des allgemeinen Geistes und erfüllt dadurch seine Be¬
stimmung, wie denn auch die Tragödie, die Darstellung vo» dem allgemeinen Elend
der Welt, die höchste Form der Kunst sei; in der völligen Entsagung hasse der
Mensch das, was allein hassenswerth sei, das Leben und seine Mächte. Man
vergleiche das Citat aus Schopenhauer (S. 288): „Die Erscheinung des Willens
zum Leben ist die Welt; das Dasein selbst und die Art des Daseins in der
Gesammtheit wie in jedem Theil ist allein ans dem Willen. Er ist frei, er ist
allmächtig. In jedem Dinge erscheint der Wille grade so, wie er sich selbst an
sich und anßer der Zeit bestimmt. Die Welt ist nur der Spiegel dieses Wollens,
»ut alle Endlichkeit, alle Leiden, alle Qualen, welche sie enthält, gehören zum
Ausdruck dessen, was er will, sind so, weil er so will. Mit dem strengsten Recht
trägt sonach jedes Wesen das Dasei» überhaupt; sodann das Dasein seiner
Art und seiner eigenthümlichen Individualität, ganz wie sie ist und unter
Umgebungen, wie sie sind, in einer Welt so wie sie ist, vom Zufall und vom Irr¬
thum beherrscht, zeitlich, vergänglich, stets leidend: und in allem, was ihm wider¬
fährt, ja mir widerfahren kann, geschieht ihm immer Recht. Denn sein ist der
Wille, und wie der Wille ist, so ist die Welt." — Ferner S. 292: „So lange
unser Wille derselbe ist, kann unsere Welt keine andere sein. Zwar wünschen alle
erlöst zu werden aus dem Zustande des Leidens und des Todes: sie möchten,
wie man sagt, zur ewigen Seligkeit gelangen, ins Himmelreich komme»; aber
nur nicht auf eigenen Füßen, sondern hineingetragen möchten sie werden durch
den Lauf der Natur. Allein das ist unmöglich, denn die Natur ist nnr das Ab¬
bild, der Schatten unseres Willens. Daher wird sie zwar uns nie fallen und
zu Nichts werden lasse», aber sie kann uns nirgends hinbringen, als immer nnr
wieder in die Natur. Wie mißlich es jedoch ist, als ein Theil der Natur zu
existiren, erfährt jeder an seinem eigenen Leben und Streben. Nur die totale
Verneinung des Willens zum Leben, in dessen Bejahung die Na¬
tur die Quelle ihres Daseins hat, kann zur wirklichen Erlösung der
Welt führen. Zu diesem hohen Ziel bilden die Tugenden nur die Brücke, sie
sind zuvörderst nur ein Anzeichen, daß der erscheinende Wille nicht mehr ganz
fest in jenem Wahn des rü-meipü inäivicZuationig befangen ist, sondern die Ent¬
täuschung schon eintritt----Wer von der Tugend des Mitleids beseelt ist,
hat sein eigenes Wesen in jedem andern wiedererkannt. Dadurch nnn identificirt
er sein eigenes Loos mit dem der Menschheit überhaupt. Dieses uun aber ist
el» hartes Loos, das des Mühens, Leidens und Sterbens. Wer also, indem er
jedem zufälligen Vortheil entsagt, für sich kein anderes, als das Loos der Mensch¬
heit überhaupt will, kaun auch dieses nicht lange mehr wollen; die Anhänglichkeit
a» das Leben n»d seine Genüsse muß je^t bald weichen und einer allgemeine»


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[0341] liebe» Geist der Pflicht ist Tugend, denn beides wäre eine wahnsinnige Illusion, sondern die völlige E»tsag»»g und das Mitleid. In dem Mitleid empfindet der einzelne Geist das Elend des allgemeinen Geistes und erfüllt dadurch seine Be¬ stimmung, wie denn auch die Tragödie, die Darstellung vo» dem allgemeinen Elend der Welt, die höchste Form der Kunst sei; in der völligen Entsagung hasse der Mensch das, was allein hassenswerth sei, das Leben und seine Mächte. Man vergleiche das Citat aus Schopenhauer (S. 288): „Die Erscheinung des Willens zum Leben ist die Welt; das Dasein selbst und die Art des Daseins in der Gesammtheit wie in jedem Theil ist allein ans dem Willen. Er ist frei, er ist allmächtig. In jedem Dinge erscheint der Wille grade so, wie er sich selbst an sich und anßer der Zeit bestimmt. Die Welt ist nur der Spiegel dieses Wollens, »ut alle Endlichkeit, alle Leiden, alle Qualen, welche sie enthält, gehören zum Ausdruck dessen, was er will, sind so, weil er so will. Mit dem strengsten Recht trägt sonach jedes Wesen das Dasei» überhaupt; sodann das Dasein seiner Art und seiner eigenthümlichen Individualität, ganz wie sie ist und unter Umgebungen, wie sie sind, in einer Welt so wie sie ist, vom Zufall und vom Irr¬ thum beherrscht, zeitlich, vergänglich, stets leidend: und in allem, was ihm wider¬ fährt, ja mir widerfahren kann, geschieht ihm immer Recht. Denn sein ist der Wille, und wie der Wille ist, so ist die Welt." — Ferner S. 292: „So lange unser Wille derselbe ist, kann unsere Welt keine andere sein. Zwar wünschen alle erlöst zu werden aus dem Zustande des Leidens und des Todes: sie möchten, wie man sagt, zur ewigen Seligkeit gelangen, ins Himmelreich komme»; aber nur nicht auf eigenen Füßen, sondern hineingetragen möchten sie werden durch den Lauf der Natur. Allein das ist unmöglich, denn die Natur ist nnr das Ab¬ bild, der Schatten unseres Willens. Daher wird sie zwar uns nie fallen und zu Nichts werden lasse», aber sie kann uns nirgends hinbringen, als immer nnr wieder in die Natur. Wie mißlich es jedoch ist, als ein Theil der Natur zu existiren, erfährt jeder an seinem eigenen Leben und Streben. Nur die totale Verneinung des Willens zum Leben, in dessen Bejahung die Na¬ tur die Quelle ihres Daseins hat, kann zur wirklichen Erlösung der Welt führen. Zu diesem hohen Ziel bilden die Tugenden nur die Brücke, sie sind zuvörderst nur ein Anzeichen, daß der erscheinende Wille nicht mehr ganz fest in jenem Wahn des rü-meipü inäivicZuationig befangen ist, sondern die Ent¬ täuschung schon eintritt----Wer von der Tugend des Mitleids beseelt ist, hat sein eigenes Wesen in jedem andern wiedererkannt. Dadurch nnn identificirt er sein eigenes Loos mit dem der Menschheit überhaupt. Dieses uun aber ist el» hartes Loos, das des Mühens, Leidens und Sterbens. Wer also, indem er jedem zufälligen Vortheil entsagt, für sich kein anderes, als das Loos der Mensch¬ heit überhaupt will, kaun auch dieses nicht lange mehr wollen; die Anhänglichkeit a» das Leben n»d seine Genüsse muß je^t bald weichen und einer allgemeine»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/341>, abgerufen am 22.07.2024.