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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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werden die Größe des Dichters im Charakterisieren darnach schätzen, ob es ihm ge¬
lingt, die originelle Besonderheit des Individuums durch wenig Striche allgemein
verständlich und interessant zu machen und ob er im Stande ist, die bestimmte
Originalität in lebhafter Steigerung trotz der Veränderungen, welche der Verlauf
der Begebenheiten in derselben hervorbringt, als eine einheitliche erscheinen
zu lassen. Wilibald Alexis ist bei seinen Hauptfiguren darin nicht durchweg
glücklich gewesen. Er war auch früher zuweilen in Gefahr, der Situation, einem
Einfall zu Liebe, die innere Harmonie seiner Charaktere zu stören, vorzüglich
dadurch, daß er einen Trieb hatte, sie in jedem Moment so geistreich und be¬
deutend als irgend möglich sich aussprechen zu lassen. Zu diesen Uebelständen,
welche bei dem vortrefflichen Dichter aus Einflüssen der Schlegel-Tieckschen
Schule zu erklären sind, kommt noch ein anderer ebenfalls für jene Schule
charakteristischer, daß der logische Verlauf der Charakterzeichnung bei ihm zuweilen
unterbrochen wird durch irgend ein wunderbares, mystisches Moment, eine raffi-
nirte Spitzfindigkeit, eine somnambule Handlung oder einen andern romantischen
Einfall, welcher grade ihm bei der realistischen und breiten Anlage seiner
Charaktere am wenigsten steht. So hat er im falschen Woldemar der Selbst¬
täuschung des Betrügers einen mystischen Anstrich und eine innere Berechtigung
gegeben, welche den schönen Roman fast verdirbt, den Leser gradezu unheimlich
berührt. So läßt er im vorliegenden Roman die gesunde Lieblingstochter des Haus¬
herrn bei einem erschütternden Ereigniß plötzlich in eine Art von magnetischem Halb¬
schlaf verfallen, in dem sie ihre Liebe zu dem Kandidaten verrathen muß. Dieser
Uebelstand hat sich in den letzten Romanen vergrößert, die Personen scheinen mehr dazu
da, verschiedene politische und sociale Standpunkte in gewählten Worten auszudrücken,
als sich consequent in ihrem Thun und im Verlauf der Begebenheiten zu erweisen.
Fast jede seiner Hauptfiguren zeigt Unklarheiten in ihrem Handeln und begeht
Dinge, die nach den gegebenen Voraussetzungen ihrer Persönlichkeit nicht wahrscheinlich
sind. Herr v. Quarbitz z. B. soll der Repräsentant jener tüchtigen, charakter¬
hasten Classe von alten märkischen Gutsherren sein, welche jetzt von dem Dichter
wol mit Recht für ausgestorben gehalten wird, trotzig in seinen Standesvornrtheilen
und dabei von sehr warmem Gefühl, wahrhaft edel und vornehm in großen
Dingen, ein wunderlicher Kanz in den kleinen Stimmungen des Tages. Ist es
möglich, daß ein solcher Mann das Liebste, was er außer seinem Vaterlande hat,
seine Familie, die Seelen seiner Töchter, einem fremden Kandidaten, der den
Tag vorher ins Haus gekommen ist, in solcher Weise empfehlen kann, wie er
Band 1 Seite 81 thut? Einem jungen Mann, dem er bis dahin eine empörende
Kälte und Nichtachtung gezeigt hat? Und ist es möglich, eine Persönlichkeit wie die
seine als einen ganzen Charakter zu verstehen, wenn die Motive seines Handelns
fortwährend als zufällige Stimmungen, Launen und Vorurtheile auftreten? Er er¬
scheint uns allerdings als eine wunderliche Mischung entgegengesetzter Eigenschafte",


werden die Größe des Dichters im Charakterisieren darnach schätzen, ob es ihm ge¬
lingt, die originelle Besonderheit des Individuums durch wenig Striche allgemein
verständlich und interessant zu machen und ob er im Stande ist, die bestimmte
Originalität in lebhafter Steigerung trotz der Veränderungen, welche der Verlauf
der Begebenheiten in derselben hervorbringt, als eine einheitliche erscheinen
zu lassen. Wilibald Alexis ist bei seinen Hauptfiguren darin nicht durchweg
glücklich gewesen. Er war auch früher zuweilen in Gefahr, der Situation, einem
Einfall zu Liebe, die innere Harmonie seiner Charaktere zu stören, vorzüglich
dadurch, daß er einen Trieb hatte, sie in jedem Moment so geistreich und be¬
deutend als irgend möglich sich aussprechen zu lassen. Zu diesen Uebelständen,
welche bei dem vortrefflichen Dichter aus Einflüssen der Schlegel-Tieckschen
Schule zu erklären sind, kommt noch ein anderer ebenfalls für jene Schule
charakteristischer, daß der logische Verlauf der Charakterzeichnung bei ihm zuweilen
unterbrochen wird durch irgend ein wunderbares, mystisches Moment, eine raffi-
nirte Spitzfindigkeit, eine somnambule Handlung oder einen andern romantischen
Einfall, welcher grade ihm bei der realistischen und breiten Anlage seiner
Charaktere am wenigsten steht. So hat er im falschen Woldemar der Selbst¬
täuschung des Betrügers einen mystischen Anstrich und eine innere Berechtigung
gegeben, welche den schönen Roman fast verdirbt, den Leser gradezu unheimlich
berührt. So läßt er im vorliegenden Roman die gesunde Lieblingstochter des Haus¬
herrn bei einem erschütternden Ereigniß plötzlich in eine Art von magnetischem Halb¬
schlaf verfallen, in dem sie ihre Liebe zu dem Kandidaten verrathen muß. Dieser
Uebelstand hat sich in den letzten Romanen vergrößert, die Personen scheinen mehr dazu
da, verschiedene politische und sociale Standpunkte in gewählten Worten auszudrücken,
als sich consequent in ihrem Thun und im Verlauf der Begebenheiten zu erweisen.
Fast jede seiner Hauptfiguren zeigt Unklarheiten in ihrem Handeln und begeht
Dinge, die nach den gegebenen Voraussetzungen ihrer Persönlichkeit nicht wahrscheinlich
sind. Herr v. Quarbitz z. B. soll der Repräsentant jener tüchtigen, charakter¬
hasten Classe von alten märkischen Gutsherren sein, welche jetzt von dem Dichter
wol mit Recht für ausgestorben gehalten wird, trotzig in seinen Standesvornrtheilen
und dabei von sehr warmem Gefühl, wahrhaft edel und vornehm in großen
Dingen, ein wunderlicher Kanz in den kleinen Stimmungen des Tages. Ist es
möglich, daß ein solcher Mann das Liebste, was er außer seinem Vaterlande hat,
seine Familie, die Seelen seiner Töchter, einem fremden Kandidaten, der den
Tag vorher ins Haus gekommen ist, in solcher Weise empfehlen kann, wie er
Band 1 Seite 81 thut? Einem jungen Mann, dem er bis dahin eine empörende
Kälte und Nichtachtung gezeigt hat? Und ist es möglich, eine Persönlichkeit wie die
seine als einen ganzen Charakter zu verstehen, wenn die Motive seines Handelns
fortwährend als zufällige Stimmungen, Launen und Vorurtheile auftreten? Er er¬
scheint uns allerdings als eine wunderliche Mischung entgegengesetzter Eigenschafte»,


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[0334] werden die Größe des Dichters im Charakterisieren darnach schätzen, ob es ihm ge¬ lingt, die originelle Besonderheit des Individuums durch wenig Striche allgemein verständlich und interessant zu machen und ob er im Stande ist, die bestimmte Originalität in lebhafter Steigerung trotz der Veränderungen, welche der Verlauf der Begebenheiten in derselben hervorbringt, als eine einheitliche erscheinen zu lassen. Wilibald Alexis ist bei seinen Hauptfiguren darin nicht durchweg glücklich gewesen. Er war auch früher zuweilen in Gefahr, der Situation, einem Einfall zu Liebe, die innere Harmonie seiner Charaktere zu stören, vorzüglich dadurch, daß er einen Trieb hatte, sie in jedem Moment so geistreich und be¬ deutend als irgend möglich sich aussprechen zu lassen. Zu diesen Uebelständen, welche bei dem vortrefflichen Dichter aus Einflüssen der Schlegel-Tieckschen Schule zu erklären sind, kommt noch ein anderer ebenfalls für jene Schule charakteristischer, daß der logische Verlauf der Charakterzeichnung bei ihm zuweilen unterbrochen wird durch irgend ein wunderbares, mystisches Moment, eine raffi- nirte Spitzfindigkeit, eine somnambule Handlung oder einen andern romantischen Einfall, welcher grade ihm bei der realistischen und breiten Anlage seiner Charaktere am wenigsten steht. So hat er im falschen Woldemar der Selbst¬ täuschung des Betrügers einen mystischen Anstrich und eine innere Berechtigung gegeben, welche den schönen Roman fast verdirbt, den Leser gradezu unheimlich berührt. So läßt er im vorliegenden Roman die gesunde Lieblingstochter des Haus¬ herrn bei einem erschütternden Ereigniß plötzlich in eine Art von magnetischem Halb¬ schlaf verfallen, in dem sie ihre Liebe zu dem Kandidaten verrathen muß. Dieser Uebelstand hat sich in den letzten Romanen vergrößert, die Personen scheinen mehr dazu da, verschiedene politische und sociale Standpunkte in gewählten Worten auszudrücken, als sich consequent in ihrem Thun und im Verlauf der Begebenheiten zu erweisen. Fast jede seiner Hauptfiguren zeigt Unklarheiten in ihrem Handeln und begeht Dinge, die nach den gegebenen Voraussetzungen ihrer Persönlichkeit nicht wahrscheinlich sind. Herr v. Quarbitz z. B. soll der Repräsentant jener tüchtigen, charakter¬ hasten Classe von alten märkischen Gutsherren sein, welche jetzt von dem Dichter wol mit Recht für ausgestorben gehalten wird, trotzig in seinen Standesvornrtheilen und dabei von sehr warmem Gefühl, wahrhaft edel und vornehm in großen Dingen, ein wunderlicher Kanz in den kleinen Stimmungen des Tages. Ist es möglich, daß ein solcher Mann das Liebste, was er außer seinem Vaterlande hat, seine Familie, die Seelen seiner Töchter, einem fremden Kandidaten, der den Tag vorher ins Haus gekommen ist, in solcher Weise empfehlen kann, wie er Band 1 Seite 81 thut? Einem jungen Mann, dem er bis dahin eine empörende Kälte und Nichtachtung gezeigt hat? Und ist es möglich, eine Persönlichkeit wie die seine als einen ganzen Charakter zu verstehen, wenn die Motive seines Handelns fortwährend als zufällige Stimmungen, Launen und Vorurtheile auftreten? Er er¬ scheint uns allerdings als eine wunderliche Mischung entgegengesetzter Eigenschafte»,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/334>, abgerufen am 22.07.2024.