Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Empfindungen gemacht wird. Wenn nun aber dieser innere Zusammenhang da¬
durch gestört wird, daß der ganze ungeheure Verlauf des wirklichen Lebens, die
ungelösten Gegensätze, die Spiele des Zufalls, welche das Detail der wirklichen
Ereignisse und der Geschichte bei fragmentarischer Behandlung darbietet, Mit her¬
eingetragen werden in deu Bau des Romans, so geht dadurch dem Leser das Ge¬
fühl des Vernünftigen und' Zweckmäßiger in deu Begebenheiten in peinlicher
Weise verloren. Und dies Bedürfniß einer künstlerischen Komposition, einer ein¬
heitlichen, abgeschlossenen Handlung tritt bei jedem Stosse ein, welcher in roman¬
hafter Weise erzählt wird. Bei jedem, wo ein Hintergrund kunstvoll dargestellt
ist, wo Ton und Methode der Erzählung Neigung zu freiem Schaffen verrathen,
wo Erfindung in Einzelnheiten, in Perspective der Haupt- und Nebensachen sicht¬
bar wird, kurz überall, wo auch nur ein Theil der Erzählung die Gesetze, den
Zwang und die Privilegien künstlerischer Darstellung zeigt.

In dem neuen Roman von W. Alexis ist der größte Theil ganz nach den
Gesetzen des Romans eingerichtet. Die Anlage des frei erfundenen Theiles der
Begebenheit ist einfach, und kunstmäßig. Durch eine ausführliche Einleitung, welche
den Hintergrund, charakteristische Momente, Landschaft und Stimmungen ausführ¬
lich darlegt und das Detail einiger Nebenfiguren in epischer Weise charakterisirt,
werden wir in das Leben einer Familie eingeführt, in welcher das Schicksal der
Tochter durch ihre Charaktere und vor allem durch die Persönlichkeit ihres
Vaters bestimmt wird. Es sind einfache Verhältnisse, kein Ueberfluß an
Personen, eine Begebenheit, welche vollständig geeignet ist, sich in ihrem Verlauf
mit logischer Nothwendigkeit, übersichtlich und interessant abzurunden. Daß
die Kämpfe und Leidenschaften einer bestimmten Zeit sich in dem Schicksale der
Familie abspiegeln, wäre ebenfalls in der Ordnung.

Der Verfasser aber kommt im Verlauf des Romans dazu, die politischen Er¬
eignisse wie die Hauptsache zu behandeln und durch die Personen seines Romans,
welche zum Theil erfunden, zum Theil geschichtlich sind, in Unterhaltungen,
auseinander zu setzen. Dadurch wird die freie epische Erfindung unterbrochen und
in den Hintergrund gedrängt, sie verliert sich zuletzt fast ganz in Darstellung
der geschichtlichen Begebenheiten und in Ausmalung der Aufregungen, in welche
dle Helden des Romans durch das Unglück des Vaterlandes versetzt werden. So
kommt es, daß um das Ende des letzten Bandes, die von dem Dichter erfun-
dene Begebenheit noch durchaus nicht zum Ende geführt ist, im Gegentheil recht
mitten in einer Krisis hängen bleibt. Der Dichter war genöthigt, um doch irgend
einen Schluß zu finden, den weitern Verlauf in kurzen Strichen anzudeuten. Da
aber nach der Anlage grade der Kampf und die innere Versöhnung der ent¬
gegengesetzte" Charaktere in die Zeit fallen mußten, welche in der Erzählung
ganz übergangen ist, so reicht dieser Schluß durchaus uicht aus, den Leser
zufrieden zu stellen. Dagegen wird der Leser große Theile der Erzählung ohne


Empfindungen gemacht wird. Wenn nun aber dieser innere Zusammenhang da¬
durch gestört wird, daß der ganze ungeheure Verlauf des wirklichen Lebens, die
ungelösten Gegensätze, die Spiele des Zufalls, welche das Detail der wirklichen
Ereignisse und der Geschichte bei fragmentarischer Behandlung darbietet, Mit her¬
eingetragen werden in deu Bau des Romans, so geht dadurch dem Leser das Ge¬
fühl des Vernünftigen und' Zweckmäßiger in deu Begebenheiten in peinlicher
Weise verloren. Und dies Bedürfniß einer künstlerischen Komposition, einer ein¬
heitlichen, abgeschlossenen Handlung tritt bei jedem Stosse ein, welcher in roman¬
hafter Weise erzählt wird. Bei jedem, wo ein Hintergrund kunstvoll dargestellt
ist, wo Ton und Methode der Erzählung Neigung zu freiem Schaffen verrathen,
wo Erfindung in Einzelnheiten, in Perspective der Haupt- und Nebensachen sicht¬
bar wird, kurz überall, wo auch nur ein Theil der Erzählung die Gesetze, den
Zwang und die Privilegien künstlerischer Darstellung zeigt.

In dem neuen Roman von W. Alexis ist der größte Theil ganz nach den
Gesetzen des Romans eingerichtet. Die Anlage des frei erfundenen Theiles der
Begebenheit ist einfach, und kunstmäßig. Durch eine ausführliche Einleitung, welche
den Hintergrund, charakteristische Momente, Landschaft und Stimmungen ausführ¬
lich darlegt und das Detail einiger Nebenfiguren in epischer Weise charakterisirt,
werden wir in das Leben einer Familie eingeführt, in welcher das Schicksal der
Tochter durch ihre Charaktere und vor allem durch die Persönlichkeit ihres
Vaters bestimmt wird. Es sind einfache Verhältnisse, kein Ueberfluß an
Personen, eine Begebenheit, welche vollständig geeignet ist, sich in ihrem Verlauf
mit logischer Nothwendigkeit, übersichtlich und interessant abzurunden. Daß
die Kämpfe und Leidenschaften einer bestimmten Zeit sich in dem Schicksale der
Familie abspiegeln, wäre ebenfalls in der Ordnung.

Der Verfasser aber kommt im Verlauf des Romans dazu, die politischen Er¬
eignisse wie die Hauptsache zu behandeln und durch die Personen seines Romans,
welche zum Theil erfunden, zum Theil geschichtlich sind, in Unterhaltungen,
auseinander zu setzen. Dadurch wird die freie epische Erfindung unterbrochen und
in den Hintergrund gedrängt, sie verliert sich zuletzt fast ganz in Darstellung
der geschichtlichen Begebenheiten und in Ausmalung der Aufregungen, in welche
dle Helden des Romans durch das Unglück des Vaterlandes versetzt werden. So
kommt es, daß um das Ende des letzten Bandes, die von dem Dichter erfun-
dene Begebenheit noch durchaus nicht zum Ende geführt ist, im Gegentheil recht
mitten in einer Krisis hängen bleibt. Der Dichter war genöthigt, um doch irgend
einen Schluß zu finden, den weitern Verlauf in kurzen Strichen anzudeuten. Da
aber nach der Anlage grade der Kampf und die innere Versöhnung der ent¬
gegengesetzte» Charaktere in die Zeit fallen mußten, welche in der Erzählung
ganz übergangen ist, so reicht dieser Schluß durchaus uicht aus, den Leser
zufrieden zu stellen. Dagegen wird der Leser große Theile der Erzählung ohne


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0332" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/97578"/>
          <p xml:id="ID_870" prev="#ID_869"> Empfindungen gemacht wird. Wenn nun aber dieser innere Zusammenhang da¬<lb/>
durch gestört wird, daß der ganze ungeheure Verlauf des wirklichen Lebens, die<lb/>
ungelösten Gegensätze, die Spiele des Zufalls, welche das Detail der wirklichen<lb/>
Ereignisse und der Geschichte bei fragmentarischer Behandlung darbietet, Mit her¬<lb/>
eingetragen werden in deu Bau des Romans, so geht dadurch dem Leser das Ge¬<lb/>
fühl des Vernünftigen und' Zweckmäßiger in deu Begebenheiten in peinlicher<lb/>
Weise verloren. Und dies Bedürfniß einer künstlerischen Komposition, einer ein¬<lb/>
heitlichen, abgeschlossenen Handlung tritt bei jedem Stosse ein, welcher in roman¬<lb/>
hafter Weise erzählt wird. Bei jedem, wo ein Hintergrund kunstvoll dargestellt<lb/>
ist, wo Ton und Methode der Erzählung Neigung zu freiem Schaffen verrathen,<lb/>
wo Erfindung in Einzelnheiten, in Perspective der Haupt- und Nebensachen sicht¬<lb/>
bar wird, kurz überall, wo auch nur ein Theil der Erzählung die Gesetze, den<lb/>
Zwang und die Privilegien künstlerischer Darstellung zeigt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_871"> In dem neuen Roman von W. Alexis ist der größte Theil ganz nach den<lb/>
Gesetzen des Romans eingerichtet. Die Anlage des frei erfundenen Theiles der<lb/>
Begebenheit ist einfach, und kunstmäßig. Durch eine ausführliche Einleitung, welche<lb/>
den Hintergrund, charakteristische Momente, Landschaft und Stimmungen ausführ¬<lb/>
lich darlegt und das Detail einiger Nebenfiguren in epischer Weise charakterisirt,<lb/>
werden wir in das Leben einer Familie eingeführt, in welcher das Schicksal der<lb/>
Tochter durch ihre Charaktere und vor allem durch die Persönlichkeit ihres<lb/>
Vaters bestimmt wird. Es sind einfache Verhältnisse, kein Ueberfluß an<lb/>
Personen, eine Begebenheit, welche vollständig geeignet ist, sich in ihrem Verlauf<lb/>
mit logischer Nothwendigkeit, übersichtlich und interessant abzurunden. Daß<lb/>
die Kämpfe und Leidenschaften einer bestimmten Zeit sich in dem Schicksale der<lb/>
Familie abspiegeln, wäre ebenfalls in der Ordnung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_872" next="#ID_873"> Der Verfasser aber kommt im Verlauf des Romans dazu, die politischen Er¬<lb/>
eignisse wie die Hauptsache zu behandeln und durch die Personen seines Romans,<lb/>
welche zum Theil erfunden, zum Theil geschichtlich sind, in Unterhaltungen,<lb/>
auseinander zu setzen. Dadurch wird die freie epische Erfindung unterbrochen und<lb/>
in den Hintergrund gedrängt, sie verliert sich zuletzt fast ganz in Darstellung<lb/>
der geschichtlichen Begebenheiten und in Ausmalung der Aufregungen, in welche<lb/>
dle Helden des Romans durch das Unglück des Vaterlandes versetzt werden. So<lb/>
kommt es, daß um das Ende des letzten Bandes, die von dem Dichter erfun-<lb/>
dene Begebenheit noch durchaus nicht zum Ende geführt ist, im Gegentheil recht<lb/>
mitten in einer Krisis hängen bleibt. Der Dichter war genöthigt, um doch irgend<lb/>
einen Schluß zu finden, den weitern Verlauf in kurzen Strichen anzudeuten. Da<lb/>
aber nach der Anlage grade der Kampf und die innere Versöhnung der ent¬<lb/>
gegengesetzte» Charaktere in die Zeit fallen mußten, welche in der Erzählung<lb/>
ganz übergangen ist, so reicht dieser Schluß durchaus uicht aus, den Leser<lb/>
zufrieden zu stellen. Dagegen wird der Leser große Theile der Erzählung ohne</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0332] Empfindungen gemacht wird. Wenn nun aber dieser innere Zusammenhang da¬ durch gestört wird, daß der ganze ungeheure Verlauf des wirklichen Lebens, die ungelösten Gegensätze, die Spiele des Zufalls, welche das Detail der wirklichen Ereignisse und der Geschichte bei fragmentarischer Behandlung darbietet, Mit her¬ eingetragen werden in deu Bau des Romans, so geht dadurch dem Leser das Ge¬ fühl des Vernünftigen und' Zweckmäßiger in deu Begebenheiten in peinlicher Weise verloren. Und dies Bedürfniß einer künstlerischen Komposition, einer ein¬ heitlichen, abgeschlossenen Handlung tritt bei jedem Stosse ein, welcher in roman¬ hafter Weise erzählt wird. Bei jedem, wo ein Hintergrund kunstvoll dargestellt ist, wo Ton und Methode der Erzählung Neigung zu freiem Schaffen verrathen, wo Erfindung in Einzelnheiten, in Perspective der Haupt- und Nebensachen sicht¬ bar wird, kurz überall, wo auch nur ein Theil der Erzählung die Gesetze, den Zwang und die Privilegien künstlerischer Darstellung zeigt. In dem neuen Roman von W. Alexis ist der größte Theil ganz nach den Gesetzen des Romans eingerichtet. Die Anlage des frei erfundenen Theiles der Begebenheit ist einfach, und kunstmäßig. Durch eine ausführliche Einleitung, welche den Hintergrund, charakteristische Momente, Landschaft und Stimmungen ausführ¬ lich darlegt und das Detail einiger Nebenfiguren in epischer Weise charakterisirt, werden wir in das Leben einer Familie eingeführt, in welcher das Schicksal der Tochter durch ihre Charaktere und vor allem durch die Persönlichkeit ihres Vaters bestimmt wird. Es sind einfache Verhältnisse, kein Ueberfluß an Personen, eine Begebenheit, welche vollständig geeignet ist, sich in ihrem Verlauf mit logischer Nothwendigkeit, übersichtlich und interessant abzurunden. Daß die Kämpfe und Leidenschaften einer bestimmten Zeit sich in dem Schicksale der Familie abspiegeln, wäre ebenfalls in der Ordnung. Der Verfasser aber kommt im Verlauf des Romans dazu, die politischen Er¬ eignisse wie die Hauptsache zu behandeln und durch die Personen seines Romans, welche zum Theil erfunden, zum Theil geschichtlich sind, in Unterhaltungen, auseinander zu setzen. Dadurch wird die freie epische Erfindung unterbrochen und in den Hintergrund gedrängt, sie verliert sich zuletzt fast ganz in Darstellung der geschichtlichen Begebenheiten und in Ausmalung der Aufregungen, in welche dle Helden des Romans durch das Unglück des Vaterlandes versetzt werden. So kommt es, daß um das Ende des letzten Bandes, die von dem Dichter erfun- dene Begebenheit noch durchaus nicht zum Ende geführt ist, im Gegentheil recht mitten in einer Krisis hängen bleibt. Der Dichter war genöthigt, um doch irgend einen Schluß zu finden, den weitern Verlauf in kurzen Strichen anzudeuten. Da aber nach der Anlage grade der Kampf und die innere Versöhnung der ent¬ gegengesetzte» Charaktere in die Zeit fallen mußten, welche in der Erzählung ganz übergangen ist, so reicht dieser Schluß durchaus uicht aus, den Leser zufrieden zu stellen. Dagegen wird der Leser große Theile der Erzählung ohne

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/332
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/332>, abgerufen am 22.07.2024.