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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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einen wohlthätigen Kontrast empfand. In Bleakhonö dagegen sind diese lich¬
ten Momente völlig verschwunden, das dunkle Reich des Häßlichen herrscht
in seiner widerwärtigsten Gestalt, und unser Gemüth wird um so schmerzlicher
davon ergriffen, da es nicht einmal die Nothwendigkeit der ganz'gemeinen em¬
pirischen Wahrheit herausfindet.

Jene Fehler der Phantasie konnten nur durch zweierlei beseitigt werden:
durch die Integrität des Gemüths, die auch durch die Berührung deö Häßlichen
nicht befleckt wurde, und durch strenge Kritik, durch gewissenhaftes Nachdenken.
Das erste fanden wir bei Dickens überall in einem hohen Grade. Wenn er uus
das Häßliche zeigte, auch mit einer Lebhaftigkeit, die über den guten Geschmack
hinausging, so fühlten wir doch stets, daß dies nur ein vorübergehender Ruhe-
punkt sein konnte; wir hatten das Vertrauen zu den Schwingen seiner Seele,
daß sie uus über diese Sümpfe schnell hinwegtragen würden. Das ist nicht blos
jene Schönseligkeit, die in armer Oede sich an ihrer eigenen Vollkommenheit
weidet und die ganze Welt als ihren Gegensatz auffaßt, jene sieches krankhafte
Sclbstaubctnng, die, fast ebenso schlimm ist, als das Schlechte, das sie. verab¬
scheut; sondern jener freudige, glaubcnSvolle Lebensmuth, der sich zuweilen über¬
müthig anch in die Unterwelt taucht, weil er seiner Kraft gewiß ist.- Diesen
Lebensmuth empfanden wir bei Dickens anch in seinen schwächeren Werken überall
heraus. Wir finden ihn in Bleakhous nicht mehr. Die wenigen Gestalten die¬
ses Romanes, die der Intention nach liebenswürdig sein sollen, sind nichts als
die Ausflüsse jener schwächlichen Schönseligkeit, die uns bei unsern deutschen Dich¬
tungen häufig so unangenehm berührt. ES ist, als ob sich ein Schatten über die Seele
unseres Dichters, gebreitet hätte, wir wissen nicht genau, worin er. liegt, aber
das Resultat ist sicher: der Glaube an das Leben ist ihm keine Wahrheit mehr.

Und dieser Glaube und dieser Lebensmuth war bei ihm um so unentbehr¬
licher, da es mit dem zweiten Moment, mit der Kritik, bei ihm immer sehr schwach
stand. ES ist heutzutage Sitte geworden, das kritische Moment oder die Mit¬
wirkung deö Verstandes bei der Dichtung gering anzuschlagen: namentlich spre¬
chen diejenigen sehr geringschätzig davon, die wohl fühlen, daß sie es nicht besitzen.
Und doch ist die höhere künstlerische Vollendung sowol in Beziehung ans die Kom¬
position als die Charakterbildung ohne die Mitwirkung deS Verstandes gar nicht
denkbar. Allerdings zeigt sich darin bei Dickenü ein merklicher Fortschritt. Die
"Pickwickicr" waren kritiklose Rhapsodien, die allerdings in einem hohen Grade
gelungen waren, die aber in dieser Weise sich nicht wiederholen konnten. In
den späteren. Romanen hat er immer mehr Studium darauf verwandt, auch, in
der Komposition etwas Vollendetes zu leisten: er hat einerseits das Gesetz von
Ursache und Wirkung in den Ereignissen und Charakteren durchzuführen gesucht,
er hat andererseits durch Gruppirung der verschiedenen Scenen, dnrch Vertheilung
von Licht und Schatten, durch Oekonomie der Stimmung eine künstlerische Voll-


einen wohlthätigen Kontrast empfand. In Bleakhonö dagegen sind diese lich¬
ten Momente völlig verschwunden, das dunkle Reich des Häßlichen herrscht
in seiner widerwärtigsten Gestalt, und unser Gemüth wird um so schmerzlicher
davon ergriffen, da es nicht einmal die Nothwendigkeit der ganz'gemeinen em¬
pirischen Wahrheit herausfindet.

Jene Fehler der Phantasie konnten nur durch zweierlei beseitigt werden:
durch die Integrität des Gemüths, die auch durch die Berührung deö Häßlichen
nicht befleckt wurde, und durch strenge Kritik, durch gewissenhaftes Nachdenken.
Das erste fanden wir bei Dickens überall in einem hohen Grade. Wenn er uus
das Häßliche zeigte, auch mit einer Lebhaftigkeit, die über den guten Geschmack
hinausging, so fühlten wir doch stets, daß dies nur ein vorübergehender Ruhe-
punkt sein konnte; wir hatten das Vertrauen zu den Schwingen seiner Seele,
daß sie uus über diese Sümpfe schnell hinwegtragen würden. Das ist nicht blos
jene Schönseligkeit, die in armer Oede sich an ihrer eigenen Vollkommenheit
weidet und die ganze Welt als ihren Gegensatz auffaßt, jene sieches krankhafte
Sclbstaubctnng, die, fast ebenso schlimm ist, als das Schlechte, das sie. verab¬
scheut; sondern jener freudige, glaubcnSvolle Lebensmuth, der sich zuweilen über¬
müthig anch in die Unterwelt taucht, weil er seiner Kraft gewiß ist.- Diesen
Lebensmuth empfanden wir bei Dickens anch in seinen schwächeren Werken überall
heraus. Wir finden ihn in Bleakhous nicht mehr. Die wenigen Gestalten die¬
ses Romanes, die der Intention nach liebenswürdig sein sollen, sind nichts als
die Ausflüsse jener schwächlichen Schönseligkeit, die uns bei unsern deutschen Dich¬
tungen häufig so unangenehm berührt. ES ist, als ob sich ein Schatten über die Seele
unseres Dichters, gebreitet hätte, wir wissen nicht genau, worin er. liegt, aber
das Resultat ist sicher: der Glaube an das Leben ist ihm keine Wahrheit mehr.

Und dieser Glaube und dieser Lebensmuth war bei ihm um so unentbehr¬
licher, da es mit dem zweiten Moment, mit der Kritik, bei ihm immer sehr schwach
stand. ES ist heutzutage Sitte geworden, das kritische Moment oder die Mit¬
wirkung deö Verstandes bei der Dichtung gering anzuschlagen: namentlich spre¬
chen diejenigen sehr geringschätzig davon, die wohl fühlen, daß sie es nicht besitzen.
Und doch ist die höhere künstlerische Vollendung sowol in Beziehung ans die Kom¬
position als die Charakterbildung ohne die Mitwirkung deS Verstandes gar nicht
denkbar. Allerdings zeigt sich darin bei Dickenü ein merklicher Fortschritt. Die
„Pickwickicr" waren kritiklose Rhapsodien, die allerdings in einem hohen Grade
gelungen waren, die aber in dieser Weise sich nicht wiederholen konnten. In
den späteren. Romanen hat er immer mehr Studium darauf verwandt, auch, in
der Komposition etwas Vollendetes zu leisten: er hat einerseits das Gesetz von
Ursache und Wirkung in den Ereignissen und Charakteren durchzuführen gesucht,
er hat andererseits durch Gruppirung der verschiedenen Scenen, dnrch Vertheilung
von Licht und Schatten, durch Oekonomie der Stimmung eine künstlerische Voll-


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[0188] einen wohlthätigen Kontrast empfand. In Bleakhonö dagegen sind diese lich¬ ten Momente völlig verschwunden, das dunkle Reich des Häßlichen herrscht in seiner widerwärtigsten Gestalt, und unser Gemüth wird um so schmerzlicher davon ergriffen, da es nicht einmal die Nothwendigkeit der ganz'gemeinen em¬ pirischen Wahrheit herausfindet. Jene Fehler der Phantasie konnten nur durch zweierlei beseitigt werden: durch die Integrität des Gemüths, die auch durch die Berührung deö Häßlichen nicht befleckt wurde, und durch strenge Kritik, durch gewissenhaftes Nachdenken. Das erste fanden wir bei Dickens überall in einem hohen Grade. Wenn er uus das Häßliche zeigte, auch mit einer Lebhaftigkeit, die über den guten Geschmack hinausging, so fühlten wir doch stets, daß dies nur ein vorübergehender Ruhe- punkt sein konnte; wir hatten das Vertrauen zu den Schwingen seiner Seele, daß sie uus über diese Sümpfe schnell hinwegtragen würden. Das ist nicht blos jene Schönseligkeit, die in armer Oede sich an ihrer eigenen Vollkommenheit weidet und die ganze Welt als ihren Gegensatz auffaßt, jene sieches krankhafte Sclbstaubctnng, die, fast ebenso schlimm ist, als das Schlechte, das sie. verab¬ scheut; sondern jener freudige, glaubcnSvolle Lebensmuth, der sich zuweilen über¬ müthig anch in die Unterwelt taucht, weil er seiner Kraft gewiß ist.- Diesen Lebensmuth empfanden wir bei Dickens anch in seinen schwächeren Werken überall heraus. Wir finden ihn in Bleakhous nicht mehr. Die wenigen Gestalten die¬ ses Romanes, die der Intention nach liebenswürdig sein sollen, sind nichts als die Ausflüsse jener schwächlichen Schönseligkeit, die uns bei unsern deutschen Dich¬ tungen häufig so unangenehm berührt. ES ist, als ob sich ein Schatten über die Seele unseres Dichters, gebreitet hätte, wir wissen nicht genau, worin er. liegt, aber das Resultat ist sicher: der Glaube an das Leben ist ihm keine Wahrheit mehr. Und dieser Glaube und dieser Lebensmuth war bei ihm um so unentbehr¬ licher, da es mit dem zweiten Moment, mit der Kritik, bei ihm immer sehr schwach stand. ES ist heutzutage Sitte geworden, das kritische Moment oder die Mit¬ wirkung deö Verstandes bei der Dichtung gering anzuschlagen: namentlich spre¬ chen diejenigen sehr geringschätzig davon, die wohl fühlen, daß sie es nicht besitzen. Und doch ist die höhere künstlerische Vollendung sowol in Beziehung ans die Kom¬ position als die Charakterbildung ohne die Mitwirkung deS Verstandes gar nicht denkbar. Allerdings zeigt sich darin bei Dickenü ein merklicher Fortschritt. Die „Pickwickicr" waren kritiklose Rhapsodien, die allerdings in einem hohen Grade gelungen waren, die aber in dieser Weise sich nicht wiederholen konnten. In den späteren. Romanen hat er immer mehr Studium darauf verwandt, auch, in der Komposition etwas Vollendetes zu leisten: er hat einerseits das Gesetz von Ursache und Wirkung in den Ereignissen und Charakteren durchzuführen gesucht, er hat andererseits durch Gruppirung der verschiedenen Scenen, dnrch Vertheilung von Licht und Schatten, durch Oekonomie der Stimmung eine künstlerische Voll-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/188>, abgerufen am 22.07.2024.