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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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seine Aufmerksamkeit doch vorzugsweise auf eine besondere Seite des Gegenstandes,
und wenn er auch die andern Seiten schneller nud lebhafter empfinden muß, als
andere Mensche", um eine concrete Darstellung zu geben, so merkt man dabei
doch immer einen Act des Willens heraus: er sucht, bevor er findet. Aber bei
Dickens scheint es, als ob nicht mir die gewöhnlichen fünf Sinne, sondern da¬
neben auch ein ganz merkwürdiges ätherisches DivinationSvermögen ohne das Zu¬
thu" seines Willens thätig wäre, um ihm das verborgene Leben der Natur und
des Geistes zuzuführen. Daher kommt es, daß uns seine Schilderung gewaltig
fesselt, ganz abgesehen vom Stoff, wenigstens bei dem ersten Eindrucke. Alles
Einzelne, was er uns gibt, beschäftigt so unabweisbar unsere Phantasie, daß wir
nicht blos dem ganz Unbedeutenden, sondern auch dem Unmöglichen Interesse ab¬
gewinnen. Um dies an einem Beispiel deutlich zu macheu, vergleiche man nur
die ersten Seiten seines "Chuzzlewit", wo er mit seiner Phantasie dem Winde
folgt, der einen Haufen dürrer Blätter vor sich hertreibt. Der Gegenstand ist so
gleichgiltig als möglich, aber es ist ein Leben und eine Bewegung in der Phan¬
tasie, die ihn ergreift, daß wir uns wie^in einer verzauberten Welt vorkommen.

Diese schöne und große Gabe ist wenigstens bis zu einem gewissen Grade
die nothwendige Voraussetzung jeder dichterischen Kraft, aber in einer gleichen
Fülle haben wir sie sonst nur bei den allergrößten Dichtern angetroffen.

Indessen die Gabe wird gefährlich, wenn sie allein steht, wenn nicht andere
ebenso wichtige Kräfte der Seele ihr das Gleichgewicht halten. Hauptsächlich
liegen zwei Irrwege nahe. Einmal wird man leicht versucht, da jeder Gegenstand
sich mit gleichem Leben aufdrängt, die Auswahl für etwas Gleichgiltiges zu halten,
das Häßliche mit derselben Behaglichkeit darzustellen, wie das Schöne, ja wol gar
das Häßliche mit besonderer Vorliebe zu studiren, weil alle Difsormität die Seele
stärker berührt, als das harmonisch in sich Abgeschlossene. Sodann verliert man
über der Wärme für die einzelne Anschauung und Stimmung leicht die Idee des
Zusammenhangs, man empfindet zu sehr die unmittelbare Wahrheit der einzelnen
Anschauung, um nach dem nothwendigen Gesetz der Kontinuität zu' suchen. Beide
Fehler finden sich in sämmtlichen Werken von Dickens. In den Pickwickieru z. B.
ist von einem inneren Zusammenhang der Charaktere, von einer Einheit der Hand¬
lung keine Spur; in anderen Romanen drängen sich diejenigen Gegenstände, die
einen sinnlichen Ekel hervorrufen und die deshalb in der Poesie nur dann berechtigt
sind, wenn sie einem höheren künstlerischen Zwecke dienen, zuweilen als etwas
Selbstständiges, als die Leistung eines Virtuosen hervor, die mit ihrer unerhörten
Technik das schöne Princip der Kunst verdrängt. Allein jene fragmentarischen
Bilder waren so schön und ideal, und diese Darstellungen des Häßlichen waren
durch andere von gleicher Kraft, in denen die Schönheit und der Adel des Ge¬
müths gefeiert oder in, denen die Seele durch Humor in Freiheit gesetzt wurde,
so in Schatten gestellt, daß mau über sie hinwegsah oder sie auch wol gar als


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seine Aufmerksamkeit doch vorzugsweise auf eine besondere Seite des Gegenstandes,
und wenn er auch die andern Seiten schneller nud lebhafter empfinden muß, als
andere Mensche«, um eine concrete Darstellung zu geben, so merkt man dabei
doch immer einen Act des Willens heraus: er sucht, bevor er findet. Aber bei
Dickens scheint es, als ob nicht mir die gewöhnlichen fünf Sinne, sondern da¬
neben auch ein ganz merkwürdiges ätherisches DivinationSvermögen ohne das Zu¬
thu» seines Willens thätig wäre, um ihm das verborgene Leben der Natur und
des Geistes zuzuführen. Daher kommt es, daß uns seine Schilderung gewaltig
fesselt, ganz abgesehen vom Stoff, wenigstens bei dem ersten Eindrucke. Alles
Einzelne, was er uns gibt, beschäftigt so unabweisbar unsere Phantasie, daß wir
nicht blos dem ganz Unbedeutenden, sondern auch dem Unmöglichen Interesse ab¬
gewinnen. Um dies an einem Beispiel deutlich zu macheu, vergleiche man nur
die ersten Seiten seines „Chuzzlewit", wo er mit seiner Phantasie dem Winde
folgt, der einen Haufen dürrer Blätter vor sich hertreibt. Der Gegenstand ist so
gleichgiltig als möglich, aber es ist ein Leben und eine Bewegung in der Phan¬
tasie, die ihn ergreift, daß wir uns wie^in einer verzauberten Welt vorkommen.

Diese schöne und große Gabe ist wenigstens bis zu einem gewissen Grade
die nothwendige Voraussetzung jeder dichterischen Kraft, aber in einer gleichen
Fülle haben wir sie sonst nur bei den allergrößten Dichtern angetroffen.

Indessen die Gabe wird gefährlich, wenn sie allein steht, wenn nicht andere
ebenso wichtige Kräfte der Seele ihr das Gleichgewicht halten. Hauptsächlich
liegen zwei Irrwege nahe. Einmal wird man leicht versucht, da jeder Gegenstand
sich mit gleichem Leben aufdrängt, die Auswahl für etwas Gleichgiltiges zu halten,
das Häßliche mit derselben Behaglichkeit darzustellen, wie das Schöne, ja wol gar
das Häßliche mit besonderer Vorliebe zu studiren, weil alle Difsormität die Seele
stärker berührt, als das harmonisch in sich Abgeschlossene. Sodann verliert man
über der Wärme für die einzelne Anschauung und Stimmung leicht die Idee des
Zusammenhangs, man empfindet zu sehr die unmittelbare Wahrheit der einzelnen
Anschauung, um nach dem nothwendigen Gesetz der Kontinuität zu' suchen. Beide
Fehler finden sich in sämmtlichen Werken von Dickens. In den Pickwickieru z. B.
ist von einem inneren Zusammenhang der Charaktere, von einer Einheit der Hand¬
lung keine Spur; in anderen Romanen drängen sich diejenigen Gegenstände, die
einen sinnlichen Ekel hervorrufen und die deshalb in der Poesie nur dann berechtigt
sind, wenn sie einem höheren künstlerischen Zwecke dienen, zuweilen als etwas
Selbstständiges, als die Leistung eines Virtuosen hervor, die mit ihrer unerhörten
Technik das schöne Princip der Kunst verdrängt. Allein jene fragmentarischen
Bilder waren so schön und ideal, und diese Darstellungen des Häßlichen waren
durch andere von gleicher Kraft, in denen die Schönheit und der Adel des Ge¬
müths gefeiert oder in, denen die Seele durch Humor in Freiheit gesetzt wurde,
so in Schatten gestellt, daß mau über sie hinwegsah oder sie auch wol gar als


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[0187] seine Aufmerksamkeit doch vorzugsweise auf eine besondere Seite des Gegenstandes, und wenn er auch die andern Seiten schneller nud lebhafter empfinden muß, als andere Mensche«, um eine concrete Darstellung zu geben, so merkt man dabei doch immer einen Act des Willens heraus: er sucht, bevor er findet. Aber bei Dickens scheint es, als ob nicht mir die gewöhnlichen fünf Sinne, sondern da¬ neben auch ein ganz merkwürdiges ätherisches DivinationSvermögen ohne das Zu¬ thu» seines Willens thätig wäre, um ihm das verborgene Leben der Natur und des Geistes zuzuführen. Daher kommt es, daß uns seine Schilderung gewaltig fesselt, ganz abgesehen vom Stoff, wenigstens bei dem ersten Eindrucke. Alles Einzelne, was er uns gibt, beschäftigt so unabweisbar unsere Phantasie, daß wir nicht blos dem ganz Unbedeutenden, sondern auch dem Unmöglichen Interesse ab¬ gewinnen. Um dies an einem Beispiel deutlich zu macheu, vergleiche man nur die ersten Seiten seines „Chuzzlewit", wo er mit seiner Phantasie dem Winde folgt, der einen Haufen dürrer Blätter vor sich hertreibt. Der Gegenstand ist so gleichgiltig als möglich, aber es ist ein Leben und eine Bewegung in der Phan¬ tasie, die ihn ergreift, daß wir uns wie^in einer verzauberten Welt vorkommen. Diese schöne und große Gabe ist wenigstens bis zu einem gewissen Grade die nothwendige Voraussetzung jeder dichterischen Kraft, aber in einer gleichen Fülle haben wir sie sonst nur bei den allergrößten Dichtern angetroffen. Indessen die Gabe wird gefährlich, wenn sie allein steht, wenn nicht andere ebenso wichtige Kräfte der Seele ihr das Gleichgewicht halten. Hauptsächlich liegen zwei Irrwege nahe. Einmal wird man leicht versucht, da jeder Gegenstand sich mit gleichem Leben aufdrängt, die Auswahl für etwas Gleichgiltiges zu halten, das Häßliche mit derselben Behaglichkeit darzustellen, wie das Schöne, ja wol gar das Häßliche mit besonderer Vorliebe zu studiren, weil alle Difsormität die Seele stärker berührt, als das harmonisch in sich Abgeschlossene. Sodann verliert man über der Wärme für die einzelne Anschauung und Stimmung leicht die Idee des Zusammenhangs, man empfindet zu sehr die unmittelbare Wahrheit der einzelnen Anschauung, um nach dem nothwendigen Gesetz der Kontinuität zu' suchen. Beide Fehler finden sich in sämmtlichen Werken von Dickens. In den Pickwickieru z. B. ist von einem inneren Zusammenhang der Charaktere, von einer Einheit der Hand¬ lung keine Spur; in anderen Romanen drängen sich diejenigen Gegenstände, die einen sinnlichen Ekel hervorrufen und die deshalb in der Poesie nur dann berechtigt sind, wenn sie einem höheren künstlerischen Zwecke dienen, zuweilen als etwas Selbstständiges, als die Leistung eines Virtuosen hervor, die mit ihrer unerhörten Technik das schöne Princip der Kunst verdrängt. Allein jene fragmentarischen Bilder waren so schön und ideal, und diese Darstellungen des Häßlichen waren durch andere von gleicher Kraft, in denen die Schönheit und der Adel des Ge¬ müths gefeiert oder in, denen die Seele durch Humor in Freiheit gesetzt wurde, so in Schatten gestellt, daß mau über sie hinwegsah oder sie auch wol gar als 23"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/187>, abgerufen am 27.07.2024.