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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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sauren und Tuba Accorde dazu an -- als wäre um die Tonarten gewürfelt. Ein
entsetzliches Beispiel, wo eine Reihe zum Theil ganz fremder Accorde auf einen liegen¬
bleibenden Grundbaß wie angenagelt wird, ist im zweiten Act bei den Worten "du
wilde Seherin," wo zu derselben Accvrdfvlge, als wäre das ganz einerlei, erst?is,
dann Öls einen Orgelpunkt bildet. Noch peinlicher ist es, wenn mit so unzusammen-
hängender Accorden, und noch dazu vorwiegend chromatisch, fvrtmvdulirt wird,
weil dabei der Widerspruch der äußerlichen Continuität mit der inneren Jn-
congruenz sich um so viel stärker geltend macht. Noch dazu wendet Wagner sehr oft
das mechanische Verfahren an, einen Harmoniencomplex mehrmals hintereinander
einen Ton oder eine Terz hinauszuschieben und dadurch zu steigern. Etwas ähn¬
liches ist es, wenn der Marsch im dritten Act, anstatt ihn einfach zu wiederholen,
jedesmal in eine neue Tonart tumultuarisch gedrängt wird iM, 0), wodurch
die Erwartung rege gemacht wird, als käme nun etwas Neues, und in Wahrheit keine
Steigerung', sondern Verwirrung hervorgebracht wird.

Es läßt sich denken, daß bei diesem Verfahren das cnharmonische Wesen eine
große Rolle spielt. Wer auch nur einmal durch eine musikalische Küche gelaufen ist, weiß,
aß nicht ebeu viel dazu gehört, sich mit den euharmouischeu Verwechselungen soweit
bekannt zu macheu um damit obenhin zu handthieren. Aber es erfordert den feinsten
und gebildetesten Sinn für das innere Verhältniß der Töne zueinander, um sie
o zu verwenden, daß der zarte Organismus nicht nur nicht verletzt werde, sondern
daß das aus einem inneren Gesetz mit Nothwendigkeit hervorgehe, was bei fühl-
loser Behandlung zu einem äußerlichen Reiz herabgewürdigt wird. Wagner geht
mit den enharmonischen Rückuugen um, als ob er dem "System der leeren Köpfe"
huldigte, welches neulich von Amerika her uns belehren wollte, es gebe nur
weiße und schwarze Noten, und alle enharmonischen Tondifferenzen reducirten sich
auf eine lästige Orthographie. Auch hier nur ein Beispiel. Das Brautlied
schließt in L cor und zwar mit einem vollen, gesättigten Schluß. Nach einer
kurzen Pause -- um hineinzuleiten in das Liebesgespräch der allein gebliebenen
Brautleute -- schlagen die Saiteninstrumente den L clur-Accord mit vbenliegender
Terz von neuem an und unmittelbar darauf den Septimenaccord auf?is, so daß
das vbenliegende v zur beliebten überhängenden kleinen Sexte wird. ' Das scheint
ganz einfach: v bleibt liegen, L wird euharmonifch mit ^is verwechselt, ? geht
nach it, L nach?1s, -- das Exempel ist richtig. Ja, auf dem Papier, das geduldiger
ist, als die Ohren, die sich darüber nicht täuschen lassen, daß O in verschiedenen
Tonarten nicht ohne weiteres derselbe Ton ist. Dergleichen ist mechanisch gemacht,
und nicht innerlich empfunden und gehört. Indessen hier herrschen physikalische
Gesetze, welche sich immer wieder Geltung verschaffen müssen und werden, wenn
mich zeitweise das Gehör verderbt sein sollte.

Wenn min der vorherrschende" Ueberreizung und Ueberladung mit harmo¬
nischen Effecten andere Male die größte Einfachheit gegenübertritt, so ist auch das


sauren und Tuba Accorde dazu an — als wäre um die Tonarten gewürfelt. Ein
entsetzliches Beispiel, wo eine Reihe zum Theil ganz fremder Accorde auf einen liegen¬
bleibenden Grundbaß wie angenagelt wird, ist im zweiten Act bei den Worten „du
wilde Seherin," wo zu derselben Accvrdfvlge, als wäre das ganz einerlei, erst?is,
dann Öls einen Orgelpunkt bildet. Noch peinlicher ist es, wenn mit so unzusammen-
hängender Accorden, und noch dazu vorwiegend chromatisch, fvrtmvdulirt wird,
weil dabei der Widerspruch der äußerlichen Continuität mit der inneren Jn-
congruenz sich um so viel stärker geltend macht. Noch dazu wendet Wagner sehr oft
das mechanische Verfahren an, einen Harmoniencomplex mehrmals hintereinander
einen Ton oder eine Terz hinauszuschieben und dadurch zu steigern. Etwas ähn¬
liches ist es, wenn der Marsch im dritten Act, anstatt ihn einfach zu wiederholen,
jedesmal in eine neue Tonart tumultuarisch gedrängt wird iM, 0), wodurch
die Erwartung rege gemacht wird, als käme nun etwas Neues, und in Wahrheit keine
Steigerung', sondern Verwirrung hervorgebracht wird.

Es läßt sich denken, daß bei diesem Verfahren das cnharmonische Wesen eine
große Rolle spielt. Wer auch nur einmal durch eine musikalische Küche gelaufen ist, weiß,
aß nicht ebeu viel dazu gehört, sich mit den euharmouischeu Verwechselungen soweit
bekannt zu macheu um damit obenhin zu handthieren. Aber es erfordert den feinsten
und gebildetesten Sinn für das innere Verhältniß der Töne zueinander, um sie
o zu verwenden, daß der zarte Organismus nicht nur nicht verletzt werde, sondern
daß das aus einem inneren Gesetz mit Nothwendigkeit hervorgehe, was bei fühl-
loser Behandlung zu einem äußerlichen Reiz herabgewürdigt wird. Wagner geht
mit den enharmonischen Rückuugen um, als ob er dem „System der leeren Köpfe"
huldigte, welches neulich von Amerika her uns belehren wollte, es gebe nur
weiße und schwarze Noten, und alle enharmonischen Tondifferenzen reducirten sich
auf eine lästige Orthographie. Auch hier nur ein Beispiel. Das Brautlied
schließt in L cor und zwar mit einem vollen, gesättigten Schluß. Nach einer
kurzen Pause — um hineinzuleiten in das Liebesgespräch der allein gebliebenen
Brautleute — schlagen die Saiteninstrumente den L clur-Accord mit vbenliegender
Terz von neuem an und unmittelbar darauf den Septimenaccord auf?is, so daß
das vbenliegende v zur beliebten überhängenden kleinen Sexte wird. ' Das scheint
ganz einfach: v bleibt liegen, L wird euharmonifch mit ^is verwechselt, ? geht
nach it, L nach?1s, — das Exempel ist richtig. Ja, auf dem Papier, das geduldiger
ist, als die Ohren, die sich darüber nicht täuschen lassen, daß O in verschiedenen
Tonarten nicht ohne weiteres derselbe Ton ist. Dergleichen ist mechanisch gemacht,
und nicht innerlich empfunden und gehört. Indessen hier herrschen physikalische
Gesetze, welche sich immer wieder Geltung verschaffen müssen und werden, wenn
mich zeitweise das Gehör verderbt sein sollte.

Wenn min der vorherrschende» Ueberreizung und Ueberladung mit harmo¬
nischen Effecten andere Male die größte Einfachheit gegenübertritt, so ist auch das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/140>, abgerufen am 22.07.2024.