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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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sextenaccord vorgehaltenen Sexte zum angeschlagenen Septimenaccord, der einen
sehr weichlich sentimentalen Ausdruck gibt, und nachdem ihn Weber und Men¬
delssohn stark vernutzt haben, im Lohengrin so durchaus stereotyp in der Can-
tileue ist, daß mau von dieser Wendung jedesmal einen sicheren Nückschlnß auf
die Intention einer Cantilene machen kann. Wenn dagegen der gewöhnliche Do¬
minantenschluß sich anmuten breiter macht als nöthig wäre, hier und da (wie beim
Schluß der Arie Telramunds) noch mit etwas Gewürz versetzt, so läßt mau sich
das viel eher gefallen; wie denn überhaupt durch das fortgesetzte Hervorziehen des
Frappireuden das eigentlich Triviale so zu Ehren kommt, daß es manchmal wie
originell klingt.

Die schlimmste Folge des Charakterisiren im Einzelnsten ist, daß nun auch
in der Harmonie alles ohne inneren Zusammenhang vereinzelt wird. Daher mit
Vorliebe Accorde unmittelbar zusammengestellt werden, die entweder nur entfernt
oder gar nicht verwandt sind, und für die das Ohr eine Verbindung entschieden
fordert, ein Verfahre", das zu einer vollständigen Negation der Gesetze der To-
"alität führt. Ich rede nicht von den grammatischen Regeln, verbotenen Quer¬
ständen und dergleichen Trivialitäten. Der Satz, daß das Genie die Regel
übertreten dürfe, wenn ein höheres Gesetz dies verlangt, ist heutzutage so
allgemein anerkannt, daß die, welche sich Genies zu sein dünken, vielmehr
glauben fragen zu müsse", wan" sie die Regel beobachten dürfen. Die har¬
monische Behandlung ist bei Wagner entweder trivial, oder durch Vereinzelung
so willkürlich, daß es scheint, als habe er von den Accorde", die auf einen
Ton gebaut werden können, einen beliebigen herausgerissen, ohne Rücksicht auf
das, was vorangeht oder was folgt, so daß vo" einer wirkliche" Accvrdfvlge,
von Zusammenhang der Tonarten oft gar nicht mehr die Rede sei" kann.
Wen" ma" seine Behandlung der Bässe verfolgt, die bekanntlich eins der cha¬
rakteristischste" Momente für die Beurtheilung einer Composition ist, wird man
das deutlich gewahren. Hier nnr ein Beispiel. Ehe der Heerrufer das Gottes¬
gericht verkündet, blasen die Trompeten einen Aufruf: auf den gebrochenen
^ cor-Accord folgt el" wiederholt angegebenes V, das man nur als die Domi¬
nante vo" cor empfinden kann und daher 6 clur im Ohr hat; allein ohne
weiteres schlägt das Orchester 6mo11, und darauf I) moll an. Noch ärger! Der
Aufruf wird später wiederholt, und wiederum erfolgt v woll -- darauf war man
"nu vorbereitet -- und Ls moU. Wenn das keine musikalische Ohrfeige ist, so
gibt es keine. Wenn man nun vollends steht, daß hier in der Situation gar
kein Grund für irgendwelche harmonische Extravaganz liegt, was kann man er¬
warten, wo die Empfiiidimgeu i" der That gesteigert si"d! Hier sind es einfach
nebeneinander gestellte Accorde; daß die Wirkung nicht verbessert werden kann, wenn
sie äußerlich in Verbindung gebracht werden, leuchtet ein. Während (im ersten
Act) die Bässe und Fagotts den Kampfplatz abstolpern, schlagen Trompete, Po-


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sextenaccord vorgehaltenen Sexte zum angeschlagenen Septimenaccord, der einen
sehr weichlich sentimentalen Ausdruck gibt, und nachdem ihn Weber und Men¬
delssohn stark vernutzt haben, im Lohengrin so durchaus stereotyp in der Can-
tileue ist, daß mau von dieser Wendung jedesmal einen sicheren Nückschlnß auf
die Intention einer Cantilene machen kann. Wenn dagegen der gewöhnliche Do¬
minantenschluß sich anmuten breiter macht als nöthig wäre, hier und da (wie beim
Schluß der Arie Telramunds) noch mit etwas Gewürz versetzt, so läßt mau sich
das viel eher gefallen; wie denn überhaupt durch das fortgesetzte Hervorziehen des
Frappireuden das eigentlich Triviale so zu Ehren kommt, daß es manchmal wie
originell klingt.

Die schlimmste Folge des Charakterisiren im Einzelnsten ist, daß nun auch
in der Harmonie alles ohne inneren Zusammenhang vereinzelt wird. Daher mit
Vorliebe Accorde unmittelbar zusammengestellt werden, die entweder nur entfernt
oder gar nicht verwandt sind, und für die das Ohr eine Verbindung entschieden
fordert, ein Verfahre», das zu einer vollständigen Negation der Gesetze der To-
»alität führt. Ich rede nicht von den grammatischen Regeln, verbotenen Quer¬
ständen und dergleichen Trivialitäten. Der Satz, daß das Genie die Regel
übertreten dürfe, wenn ein höheres Gesetz dies verlangt, ist heutzutage so
allgemein anerkannt, daß die, welche sich Genies zu sein dünken, vielmehr
glauben fragen zu müsse», wan» sie die Regel beobachten dürfen. Die har¬
monische Behandlung ist bei Wagner entweder trivial, oder durch Vereinzelung
so willkürlich, daß es scheint, als habe er von den Accorde», die auf einen
Ton gebaut werden können, einen beliebigen herausgerissen, ohne Rücksicht auf
das, was vorangeht oder was folgt, so daß vo» einer wirkliche» Accvrdfvlge,
von Zusammenhang der Tonarten oft gar nicht mehr die Rede sei» kann.
Wen» ma» seine Behandlung der Bässe verfolgt, die bekanntlich eins der cha¬
rakteristischste» Momente für die Beurtheilung einer Composition ist, wird man
das deutlich gewahren. Hier nnr ein Beispiel. Ehe der Heerrufer das Gottes¬
gericht verkündet, blasen die Trompeten einen Aufruf: auf den gebrochenen
^ cor-Accord folgt el» wiederholt angegebenes V, das man nur als die Domi¬
nante vo» cor empfinden kann und daher 6 clur im Ohr hat; allein ohne
weiteres schlägt das Orchester 6mo11, und darauf I) moll an. Noch ärger! Der
Aufruf wird später wiederholt, und wiederum erfolgt v woll — darauf war man
»nu vorbereitet — und Ls moU. Wenn das keine musikalische Ohrfeige ist, so
gibt es keine. Wenn man nun vollends steht, daß hier in der Situation gar
kein Grund für irgendwelche harmonische Extravaganz liegt, was kann man er¬
warten, wo die Empfiiidimgeu i» der That gesteigert si»d! Hier sind es einfach
nebeneinander gestellte Accorde; daß die Wirkung nicht verbessert werden kann, wenn
sie äußerlich in Verbindung gebracht werden, leuchtet ein. Während (im ersten
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[0139] sextenaccord vorgehaltenen Sexte zum angeschlagenen Septimenaccord, der einen sehr weichlich sentimentalen Ausdruck gibt, und nachdem ihn Weber und Men¬ delssohn stark vernutzt haben, im Lohengrin so durchaus stereotyp in der Can- tileue ist, daß mau von dieser Wendung jedesmal einen sicheren Nückschlnß auf die Intention einer Cantilene machen kann. Wenn dagegen der gewöhnliche Do¬ minantenschluß sich anmuten breiter macht als nöthig wäre, hier und da (wie beim Schluß der Arie Telramunds) noch mit etwas Gewürz versetzt, so läßt mau sich das viel eher gefallen; wie denn überhaupt durch das fortgesetzte Hervorziehen des Frappireuden das eigentlich Triviale so zu Ehren kommt, daß es manchmal wie originell klingt. Die schlimmste Folge des Charakterisiren im Einzelnsten ist, daß nun auch in der Harmonie alles ohne inneren Zusammenhang vereinzelt wird. Daher mit Vorliebe Accorde unmittelbar zusammengestellt werden, die entweder nur entfernt oder gar nicht verwandt sind, und für die das Ohr eine Verbindung entschieden fordert, ein Verfahre», das zu einer vollständigen Negation der Gesetze der To- »alität führt. Ich rede nicht von den grammatischen Regeln, verbotenen Quer¬ ständen und dergleichen Trivialitäten. Der Satz, daß das Genie die Regel übertreten dürfe, wenn ein höheres Gesetz dies verlangt, ist heutzutage so allgemein anerkannt, daß die, welche sich Genies zu sein dünken, vielmehr glauben fragen zu müsse», wan» sie die Regel beobachten dürfen. Die har¬ monische Behandlung ist bei Wagner entweder trivial, oder durch Vereinzelung so willkürlich, daß es scheint, als habe er von den Accorde», die auf einen Ton gebaut werden können, einen beliebigen herausgerissen, ohne Rücksicht auf das, was vorangeht oder was folgt, so daß vo» einer wirkliche» Accvrdfvlge, von Zusammenhang der Tonarten oft gar nicht mehr die Rede sei» kann. Wen» ma» seine Behandlung der Bässe verfolgt, die bekanntlich eins der cha¬ rakteristischste» Momente für die Beurtheilung einer Composition ist, wird man das deutlich gewahren. Hier nnr ein Beispiel. Ehe der Heerrufer das Gottes¬ gericht verkündet, blasen die Trompeten einen Aufruf: auf den gebrochenen ^ cor-Accord folgt el» wiederholt angegebenes V, das man nur als die Domi¬ nante vo» cor empfinden kann und daher 6 clur im Ohr hat; allein ohne weiteres schlägt das Orchester 6mo11, und darauf I) moll an. Noch ärger! Der Aufruf wird später wiederholt, und wiederum erfolgt v woll — darauf war man »nu vorbereitet — und Ls moU. Wenn das keine musikalische Ohrfeige ist, so gibt es keine. Wenn man nun vollends steht, daß hier in der Situation gar kein Grund für irgendwelche harmonische Extravaganz liegt, was kann man er¬ warten, wo die Empfiiidimgeu i» der That gesteigert si»d! Hier sind es einfach nebeneinander gestellte Accorde; daß die Wirkung nicht verbessert werden kann, wenn sie äußerlich in Verbindung gebracht werden, leuchtet ein. Während (im ersten Act) die Bässe und Fagotts den Kampfplatz abstolpern, schlagen Trompete, Po- -17"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/139>, abgerufen am 25.08.2024.