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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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Der Mnlteka zerfällt in A6 Titel oder Bücher, Kitab. Bemerkeuswerth ist
der Titel vom Kriege. Es gibt zwei Kriege: der grobe Krieg, oder der Krieg
gegen die Leidenschaften, Djihad ekbar, und der kleine Krieg, der Krieg gegen
die Feinde des Staates und der Religion, Djihad asgar. Beide find heilige
Pflicht, letzterer wird jedoch als nothwendiges Uebel angesehen. Der Titel Emir,
Nebi bestimmt, daß jeder einzelne Muselmann berechtigt ist, die Handlungen des
Sultans, insofern sie das Gesetz übertreten, zu beurtheilen und zu bestrafen; der
Sultan ist nur der Repräsentant des Gesetzes. Der Titel Gaspe handelt vom
Eigenthum und der persönlichen Freiheit und Sicherheit. Er gewährleistet unter
den strengsten Strafen die Unverletzlichkeit der Wohnung, selbst den Beamten der
Regierung gegenüber, nach den Worten des Koran: "O Gläubige, tretet uicht
in ein fremdes Haus, ohne Erlaubniß und ohne diejenigen zu begrüßen, welche
es bewohnen." Keine Haussuchung kann in Konstantinopel ohne eigenhändigen
Befehl des Vezier stattfinden. Der Beamte, welcher diesen Befehl überbringt,
erscheint, wenn es sich um einen Türken handelt, in Begleitung des Imaus des
Stadttheils; wenn es sich um eiuen Griechen oder Armenier handelt, in Be¬
gleitung des betreffenden Kirchenobern, und wenn die Haussuchung bei einem Juden
stattfinden soll, in Begleitung des Rabbinen. In die Gemächer der Frauen,
sowol mnselmännischer als nichtmnselmännischer kann man nur eintreten, wenn sie
ausgegangen sind.

Der Multeka umfaßt mehr Gegenstände, als die meisten europäischen Gesetz¬
bücher. Mehr vo.n Theologen als von Rechtsgelehrten abgefaßt, ermangelt er
wesentlich der Einfachheit und Klarheit: Moral und Gesetz sind in ihm verschmolzen,
und er ist ebensowol eine Sittenlehre als ein Gesetzbuch. Daß die Türkei Jahr¬
hunderte lang unter der Herrschaft eines solchen Gesetzes leben konnte, erklärt sich
aus der großen Religiosität des Volkes, bei dem die Beobachtung des Gesetzes
zugleich Neligionspflicht ist. Alle diejenigen, welche längere Zeit in der Türkei
gelebt haben, versichern, daß kein Volk sittlicher und gewissenhafter ist, keines mehr
Achtung vor dem Gesetze hat. So ist die Contrebande in der Türkei unbekannt;
von Diebshehlern unter Türken Hort man kaum sprechen, und die gerichtliche Statistik
von Konstantinopel, nach London und Paris der volkreichsten Hauptstadt Enropas,
würde, wenn sie sorgfältig angefertigt werden ckönnte, in dieser Beziehung im
Vergleich zu andern Städten höchst merkwürdige Aufschlüsse geben.

Dieser Zustand der Gesetzgebung konnte indeß nur so lange dauern, als die
Türken den andern Nationen gegenüber in absoluter Abgeschlossenheit oder in er¬
klärter Feindseligkeit lebten. Als aber die Türkei aus ihrer Eigenthümlichkeit
heraustrat und sich den übrigen europäischen Nationen näherte, konnte der Mul¬
teka für die Bedürfnisse einer mehr fortgeschrittenen und eben dadurch mehr ver¬
dorbenen Gesellschaft nicht mehr ausreichen. Neue Zustände forderten neue Gesetze.
In diesem Sinne sonderte der Hattischerif von Gulhane das eigentliche Gesetz


Der Mnlteka zerfällt in A6 Titel oder Bücher, Kitab. Bemerkeuswerth ist
der Titel vom Kriege. Es gibt zwei Kriege: der grobe Krieg, oder der Krieg
gegen die Leidenschaften, Djihad ekbar, und der kleine Krieg, der Krieg gegen
die Feinde des Staates und der Religion, Djihad asgar. Beide find heilige
Pflicht, letzterer wird jedoch als nothwendiges Uebel angesehen. Der Titel Emir,
Nebi bestimmt, daß jeder einzelne Muselmann berechtigt ist, die Handlungen des
Sultans, insofern sie das Gesetz übertreten, zu beurtheilen und zu bestrafen; der
Sultan ist nur der Repräsentant des Gesetzes. Der Titel Gaspe handelt vom
Eigenthum und der persönlichen Freiheit und Sicherheit. Er gewährleistet unter
den strengsten Strafen die Unverletzlichkeit der Wohnung, selbst den Beamten der
Regierung gegenüber, nach den Worten des Koran: „O Gläubige, tretet uicht
in ein fremdes Haus, ohne Erlaubniß und ohne diejenigen zu begrüßen, welche
es bewohnen." Keine Haussuchung kann in Konstantinopel ohne eigenhändigen
Befehl des Vezier stattfinden. Der Beamte, welcher diesen Befehl überbringt,
erscheint, wenn es sich um einen Türken handelt, in Begleitung des Imaus des
Stadttheils; wenn es sich um eiuen Griechen oder Armenier handelt, in Be¬
gleitung des betreffenden Kirchenobern, und wenn die Haussuchung bei einem Juden
stattfinden soll, in Begleitung des Rabbinen. In die Gemächer der Frauen,
sowol mnselmännischer als nichtmnselmännischer kann man nur eintreten, wenn sie
ausgegangen sind.

Der Multeka umfaßt mehr Gegenstände, als die meisten europäischen Gesetz¬
bücher. Mehr vo.n Theologen als von Rechtsgelehrten abgefaßt, ermangelt er
wesentlich der Einfachheit und Klarheit: Moral und Gesetz sind in ihm verschmolzen,
und er ist ebensowol eine Sittenlehre als ein Gesetzbuch. Daß die Türkei Jahr¬
hunderte lang unter der Herrschaft eines solchen Gesetzes leben konnte, erklärt sich
aus der großen Religiosität des Volkes, bei dem die Beobachtung des Gesetzes
zugleich Neligionspflicht ist. Alle diejenigen, welche längere Zeit in der Türkei
gelebt haben, versichern, daß kein Volk sittlicher und gewissenhafter ist, keines mehr
Achtung vor dem Gesetze hat. So ist die Contrebande in der Türkei unbekannt;
von Diebshehlern unter Türken Hort man kaum sprechen, und die gerichtliche Statistik
von Konstantinopel, nach London und Paris der volkreichsten Hauptstadt Enropas,
würde, wenn sie sorgfältig angefertigt werden ckönnte, in dieser Beziehung im
Vergleich zu andern Städten höchst merkwürdige Aufschlüsse geben.

Dieser Zustand der Gesetzgebung konnte indeß nur so lange dauern, als die
Türken den andern Nationen gegenüber in absoluter Abgeschlossenheit oder in er¬
klärter Feindseligkeit lebten. Als aber die Türkei aus ihrer Eigenthümlichkeit
heraustrat und sich den übrigen europäischen Nationen näherte, konnte der Mul¬
teka für die Bedürfnisse einer mehr fortgeschrittenen und eben dadurch mehr ver¬
dorbenen Gesellschaft nicht mehr ausreichen. Neue Zustände forderten neue Gesetze.
In diesem Sinne sonderte der Hattischerif von Gulhane das eigentliche Gesetz


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/114>, abgerufen am 22.07.2024.