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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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westlicher Entwicklungskräste nicht leugnen kann. In dem ganzen Volke der
Niederlande steckt eine bange Furcht vor dem Erwachen des deutschen Mannes,
dessen Wissenschaftlichkeit kein holländischer Gelehrter zu leugnen wagt, eher
überschätzt, dessen Arbeitsamkeit und Umsicht den holländischen Kaufleuten,
deren Comptoiristen zu ^/z Deutsche sind und die sich in den letzten Jahren fast
überall von deutschen eingewanderten Firmen überflügelt sehen., nur zu wohl
bekannt sind und dessen robusten und unverdorbenen Körper der Städter wie
Landmann in den Kerngestalten der vielen Handwerker und Tagelöhner be¬
wundert, von denen die ersten sast stets Wohlstand, die letzteren, sogenannte
Holländsgänger, 20--30,000 per Jahr -- ihren Mieth- und Pachtzins ge¬
winnen.

Kamen nun hierzu das von den socialen Doctoren vorzugsweise bedrohte In¬
teresse der zahlreichen Rentiers und die in den Niederlanden fast allgemein behauptete
Verbindung der deutschen Freigeisterei mit der deutschen und französischen rothen
Republik, so mußte nach den politischen Ausschweifungen des deutschen Volkes
im Jahre -I8i8 und 18L9 sich die schon vorhandene Furcht zu einem bangen
Hasse gegen das "den Staat, die Gesellschaft, die Religion bedrohende Deutsch-
, land" steigern, und eine besonnene Beurtheilung der deutschen Zustände, ins¬
besondere der Mittelpartei, unmöglich machen; deutsche Flotte, deutsche Einig¬
keit, deutsches Parlament und deutsche Politik sind daher selbst verständigen
Niederländern fast stets Gegenstände des täglichen Spottes, unter dem sich
aber die Furcht und der Haß verborgen halten, Verstand wie Herz gegen alle,
zumal deutsche, Neuerungen verblendet. In keinem Lande haben deshalb die
Ideen unsrer Kreuzzeitungsmänner rascher einen größern Anhang gefunden, als
in den Niederlanden, glücklicherweise aber sosort wieder verloren, als man ihren
revolutionären Charakter erkannte. Denn das niederländische.Volk ist gegen¬
wärtig infolge der jüngsten politischen Vorgänge in Deutschland, Frankreich,
Italien :c. und durch die Erscheinungen auf dem Gebiete des Christenthums,
in einen Zustand gerathen, in welchem man viele Dinge weder hören noch
sehen will, sondern sich mit geschlossenen Ohren und Augen an das Bestehende
anklammert, das Gewesene preist, ohne es zurückrufen zu wollen oder zu
können, und in die Zukunft hineintreibe, ohne sie beherrschen zu wollen; hier
der Zustand einer ganzen Nation, was. in den andern Staaten Europas nur
bei der sogenannten höhern Bourgeoisie sich vorfindet, und ähnlich wie diese
sich immer mehr von den extremen Parteien scheint fortschleppen lassen zu wollen,
so erwarten die Niederlande ihr Schicksal in dem großen Principienstreit Eu¬
ropas, ohne nur eine stille Parteinahme sich zu erlauben, wie sich in der gegen¬
wärtigen Krisis auf das deutlichste zeigt.

Die Betrachtung der Vergangenheit und Gegenwart redet zwar für die
Westmächte, aber die Scheu vor der Zukunft, von der man für die Niederlande


Grenzboten. IV. 18si, -12

westlicher Entwicklungskräste nicht leugnen kann. In dem ganzen Volke der
Niederlande steckt eine bange Furcht vor dem Erwachen des deutschen Mannes,
dessen Wissenschaftlichkeit kein holländischer Gelehrter zu leugnen wagt, eher
überschätzt, dessen Arbeitsamkeit und Umsicht den holländischen Kaufleuten,
deren Comptoiristen zu ^/z Deutsche sind und die sich in den letzten Jahren fast
überall von deutschen eingewanderten Firmen überflügelt sehen., nur zu wohl
bekannt sind und dessen robusten und unverdorbenen Körper der Städter wie
Landmann in den Kerngestalten der vielen Handwerker und Tagelöhner be¬
wundert, von denen die ersten sast stets Wohlstand, die letzteren, sogenannte
Holländsgänger, 20—30,000 per Jahr — ihren Mieth- und Pachtzins ge¬
winnen.

Kamen nun hierzu das von den socialen Doctoren vorzugsweise bedrohte In¬
teresse der zahlreichen Rentiers und die in den Niederlanden fast allgemein behauptete
Verbindung der deutschen Freigeisterei mit der deutschen und französischen rothen
Republik, so mußte nach den politischen Ausschweifungen des deutschen Volkes
im Jahre -I8i8 und 18L9 sich die schon vorhandene Furcht zu einem bangen
Hasse gegen das „den Staat, die Gesellschaft, die Religion bedrohende Deutsch-
, land" steigern, und eine besonnene Beurtheilung der deutschen Zustände, ins¬
besondere der Mittelpartei, unmöglich machen; deutsche Flotte, deutsche Einig¬
keit, deutsches Parlament und deutsche Politik sind daher selbst verständigen
Niederländern fast stets Gegenstände des täglichen Spottes, unter dem sich
aber die Furcht und der Haß verborgen halten, Verstand wie Herz gegen alle,
zumal deutsche, Neuerungen verblendet. In keinem Lande haben deshalb die
Ideen unsrer Kreuzzeitungsmänner rascher einen größern Anhang gefunden, als
in den Niederlanden, glücklicherweise aber sosort wieder verloren, als man ihren
revolutionären Charakter erkannte. Denn das niederländische.Volk ist gegen¬
wärtig infolge der jüngsten politischen Vorgänge in Deutschland, Frankreich,
Italien :c. und durch die Erscheinungen auf dem Gebiete des Christenthums,
in einen Zustand gerathen, in welchem man viele Dinge weder hören noch
sehen will, sondern sich mit geschlossenen Ohren und Augen an das Bestehende
anklammert, das Gewesene preist, ohne es zurückrufen zu wollen oder zu
können, und in die Zukunft hineintreibe, ohne sie beherrschen zu wollen; hier
der Zustand einer ganzen Nation, was. in den andern Staaten Europas nur
bei der sogenannten höhern Bourgeoisie sich vorfindet, und ähnlich wie diese
sich immer mehr von den extremen Parteien scheint fortschleppen lassen zu wollen,
so erwarten die Niederlande ihr Schicksal in dem großen Principienstreit Eu¬
ropas, ohne nur eine stille Parteinahme sich zu erlauben, wie sich in der gegen¬
wärtigen Krisis auf das deutlichste zeigt.

Die Betrachtung der Vergangenheit und Gegenwart redet zwar für die
Westmächte, aber die Scheu vor der Zukunft, von der man für die Niederlande


Grenzboten. IV. 18si, -12
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[0097] westlicher Entwicklungskräste nicht leugnen kann. In dem ganzen Volke der Niederlande steckt eine bange Furcht vor dem Erwachen des deutschen Mannes, dessen Wissenschaftlichkeit kein holländischer Gelehrter zu leugnen wagt, eher überschätzt, dessen Arbeitsamkeit und Umsicht den holländischen Kaufleuten, deren Comptoiristen zu ^/z Deutsche sind und die sich in den letzten Jahren fast überall von deutschen eingewanderten Firmen überflügelt sehen., nur zu wohl bekannt sind und dessen robusten und unverdorbenen Körper der Städter wie Landmann in den Kerngestalten der vielen Handwerker und Tagelöhner be¬ wundert, von denen die ersten sast stets Wohlstand, die letzteren, sogenannte Holländsgänger, 20—30,000 per Jahr — ihren Mieth- und Pachtzins ge¬ winnen. Kamen nun hierzu das von den socialen Doctoren vorzugsweise bedrohte In¬ teresse der zahlreichen Rentiers und die in den Niederlanden fast allgemein behauptete Verbindung der deutschen Freigeisterei mit der deutschen und französischen rothen Republik, so mußte nach den politischen Ausschweifungen des deutschen Volkes im Jahre -I8i8 und 18L9 sich die schon vorhandene Furcht zu einem bangen Hasse gegen das „den Staat, die Gesellschaft, die Religion bedrohende Deutsch- , land" steigern, und eine besonnene Beurtheilung der deutschen Zustände, ins¬ besondere der Mittelpartei, unmöglich machen; deutsche Flotte, deutsche Einig¬ keit, deutsches Parlament und deutsche Politik sind daher selbst verständigen Niederländern fast stets Gegenstände des täglichen Spottes, unter dem sich aber die Furcht und der Haß verborgen halten, Verstand wie Herz gegen alle, zumal deutsche, Neuerungen verblendet. In keinem Lande haben deshalb die Ideen unsrer Kreuzzeitungsmänner rascher einen größern Anhang gefunden, als in den Niederlanden, glücklicherweise aber sosort wieder verloren, als man ihren revolutionären Charakter erkannte. Denn das niederländische.Volk ist gegen¬ wärtig infolge der jüngsten politischen Vorgänge in Deutschland, Frankreich, Italien :c. und durch die Erscheinungen auf dem Gebiete des Christenthums, in einen Zustand gerathen, in welchem man viele Dinge weder hören noch sehen will, sondern sich mit geschlossenen Ohren und Augen an das Bestehende anklammert, das Gewesene preist, ohne es zurückrufen zu wollen oder zu können, und in die Zukunft hineintreibe, ohne sie beherrschen zu wollen; hier der Zustand einer ganzen Nation, was. in den andern Staaten Europas nur bei der sogenannten höhern Bourgeoisie sich vorfindet, und ähnlich wie diese sich immer mehr von den extremen Parteien scheint fortschleppen lassen zu wollen, so erwarten die Niederlande ihr Schicksal in dem großen Principienstreit Eu¬ ropas, ohne nur eine stille Parteinahme sich zu erlauben, wie sich in der gegen¬ wärtigen Krisis auf das deutlichste zeigt. Die Betrachtung der Vergangenheit und Gegenwart redet zwar für die Westmächte, aber die Scheu vor der Zukunft, von der man für die Niederlande Grenzboten. IV. 18si, -12

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/97>, abgerufen am 03.07.2024.