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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Grad von Nervenschwäche sogar bei den Baucrweibern zum guten Tone gehört,
und die elegante Welt in der Literatur nichts mehr liebt, als die heftigsten
Erschütterungen des Gemüths; am deutlichsten zeigt sich diese sonderbare Nei¬
gung des niederländischen Volks in .der Taktik aller Zeitungen und Journale,
ihre ^Spalten stets zu einem großen Theile mit Schauer-, Schreckens- und
Unglücksereignissen zu füllen, oft so alltäglicher Natur, daß in Deutschland
selbst ein Localblatt sie übergehen würde; hängt diese Eigenschaft psychologisch
vielleicht mit dem übermäßigen Gefühle von der eignen Sicherheit und Wohl-
häbigkeit zusammen, welche des Gegensatzes bedürfen, um recht genossen zu
werden?

Diese Empfindelei hat in der Literatur in den letzten 60 Jahren fort¬
während zugenommen oder datirt sich gar erst von dieser Zeit her, da wenig¬
stens die ältern Historiker sich frei davon erhalten haben, während sie jetzt
alles beherrscht, zu dem sie nur irgendwie gelangen kann, vorzüglich die theo¬
logische und schöne Literatur. So ist das moderne niederländische Trauer¬
spiel, wie wir an einem Beispiele im zweiten Artikel zeigen werden, durchaus
krank an überladenen Pathos, Haschen nach Effecten und Schauerscenen, fast
ganz in der Weise der französisch-romantischen Schule; so finden die Erzeug¬
nisse der romantischen Perioden der englischen, französischen und deutschen
Literatur bei weitem größern Anklang, als diejenigen, welche aus einer un-
verzärtelten und klaren Lebensanschauung entsprungen sind, und findet man
nirgend mehr gekünsteltes Pathos und Empfindelei bei öffentlichen Verhand¬
lungen, als in den Niederlanden. Selbst bei der Lectüre von Abhandlungen
rein praktischer Natur hat man sortwährend einen verwirrenden Wust von
religiösen und moralischen Betrachtungen, Gefühlsergießungen und melancho¬
lischen Reflexionen zu entfernen, es gehört solch ein Ausputz ebenso zur Li¬
teratur, wie das Kirchengehen und tägliche Bibellesen zum alltäglichen Leben.
Der dritte Grund des Mangels an logischer Consequenz fällt mit unsrer vierten
Haupteigenschaft der niederländischen Literatur zusammen, nämlich der über¬
triebenen Achtung des Bestehenden-und Gewesenen, einer Eigenschaft, deren
Entstehen freilich nicht schwer zu erklären ist.

Jedes Volk, welches eine ruhmreiche Periode hinter sich hat, ohne eine
zweite gleiche oder ähnliche mit Grund erwarten zu können, was beides bei
den Niederländern der Fall ist,, wird ein eifersüchtiger Vertheidiger des Ge¬
wesenen und Bestehenden. Die Niederlande sind politisch wie handelspolitisch
an einem Punkte angelangt, wo jeder Fortschritt zur Unterordnung unter das
stammverwandte Deutschland sichren muß, unter das Deutschland, welches man
zwar in ersterer Beziehung noch gar nicht und in zweiter erst in den letzten
Jahren zu respectiren begonnen hat, von dem man aber für die Zukunft um-
somehr fürchtet, als man bei einigem Nachdenken das Vorhandensein uner-


Grad von Nervenschwäche sogar bei den Baucrweibern zum guten Tone gehört,
und die elegante Welt in der Literatur nichts mehr liebt, als die heftigsten
Erschütterungen des Gemüths; am deutlichsten zeigt sich diese sonderbare Nei¬
gung des niederländischen Volks in .der Taktik aller Zeitungen und Journale,
ihre ^Spalten stets zu einem großen Theile mit Schauer-, Schreckens- und
Unglücksereignissen zu füllen, oft so alltäglicher Natur, daß in Deutschland
selbst ein Localblatt sie übergehen würde; hängt diese Eigenschaft psychologisch
vielleicht mit dem übermäßigen Gefühle von der eignen Sicherheit und Wohl-
häbigkeit zusammen, welche des Gegensatzes bedürfen, um recht genossen zu
werden?

Diese Empfindelei hat in der Literatur in den letzten 60 Jahren fort¬
während zugenommen oder datirt sich gar erst von dieser Zeit her, da wenig¬
stens die ältern Historiker sich frei davon erhalten haben, während sie jetzt
alles beherrscht, zu dem sie nur irgendwie gelangen kann, vorzüglich die theo¬
logische und schöne Literatur. So ist das moderne niederländische Trauer¬
spiel, wie wir an einem Beispiele im zweiten Artikel zeigen werden, durchaus
krank an überladenen Pathos, Haschen nach Effecten und Schauerscenen, fast
ganz in der Weise der französisch-romantischen Schule; so finden die Erzeug¬
nisse der romantischen Perioden der englischen, französischen und deutschen
Literatur bei weitem größern Anklang, als diejenigen, welche aus einer un-
verzärtelten und klaren Lebensanschauung entsprungen sind, und findet man
nirgend mehr gekünsteltes Pathos und Empfindelei bei öffentlichen Verhand¬
lungen, als in den Niederlanden. Selbst bei der Lectüre von Abhandlungen
rein praktischer Natur hat man sortwährend einen verwirrenden Wust von
religiösen und moralischen Betrachtungen, Gefühlsergießungen und melancho¬
lischen Reflexionen zu entfernen, es gehört solch ein Ausputz ebenso zur Li¬
teratur, wie das Kirchengehen und tägliche Bibellesen zum alltäglichen Leben.
Der dritte Grund des Mangels an logischer Consequenz fällt mit unsrer vierten
Haupteigenschaft der niederländischen Literatur zusammen, nämlich der über¬
triebenen Achtung des Bestehenden-und Gewesenen, einer Eigenschaft, deren
Entstehen freilich nicht schwer zu erklären ist.

Jedes Volk, welches eine ruhmreiche Periode hinter sich hat, ohne eine
zweite gleiche oder ähnliche mit Grund erwarten zu können, was beides bei
den Niederländern der Fall ist,, wird ein eifersüchtiger Vertheidiger des Ge¬
wesenen und Bestehenden. Die Niederlande sind politisch wie handelspolitisch
an einem Punkte angelangt, wo jeder Fortschritt zur Unterordnung unter das
stammverwandte Deutschland sichren muß, unter das Deutschland, welches man
zwar in ersterer Beziehung noch gar nicht und in zweiter erst in den letzten
Jahren zu respectiren begonnen hat, von dem man aber für die Zukunft um-
somehr fürchtet, als man bei einigem Nachdenken das Vorhandensein uner-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/96>, abgerufen am 03.07.2024.