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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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eine Unmöglichkeit; eine pantheistische und eine materialistische Weltanschauung
darf sich auf keinem wissenschaftlichen Gebiete, selbst nicht dem der Natur¬
wissenschaft vor das Publicum wagen, wie noch das jüngste Beispiel Mole¬
schotts zeigt, dessen wissenschaftliches Ansehen und sociale Stellung in den
Niederlanden mit einem Schlage vernichtet waren, als er den Materialismus
bekannte; die Philosophie, welche officiell gelehrt wird, ist ein etwas moderni-
sirter Wolfianiömus, der über die wichtigsten Fragen oberflächlich hinweg¬
schlüpft oder an der Hand religiöser Dogmata hinwegspringt, und die Be¬
kanntschaft Mit der deutschen Philosophie hört bei Kant größtentheils auf.
Kann man durchaus nicht umhin, der neuesten Philosophie zu erwähnen, so
sind die beiden einzigen Waffen, mit denen* man sie bekämpft, die religiös-dog¬
matische und die praktisch-sociale, von denen die erste natürlich theoretisch nichts,
die andere für die Praxis zwar viel, aber für die Theorie nichts vermag, dem
Holländer aber genügen, weil er die Wissenschaft den Anforderungen des
socialen Lebens, dieses dem Dogma unterordnet.

Daher finden religiös-dogmatische Streitigkeiten nirgend, vielleicht mit
Ausnahme Schottlands, ein eifrigeres Publicum als in den Niederlanden, und
der rothe Faden, welcher sich durch dieselben hindurchzieht, ist noch immer der¬
selbe, wie zur Zeit des Oldenbarneveldt und Hugo Grotius, nämlich der Gegen¬
satz der remonstrantischen und contraremonstrantischm Auffassung der reformirten
Lehre, welcher bekanntlich die Lehre von der Prädestination und Gnadenwahl,
die Symbola und die Selbstständigkeit der Kirche gegenüber den Staat betraf,
von welchen Punkten die Remoustranten hinsichtlich des ersten eine humane, wenn
auch herzlich unlogische Auffassung hatten, die zweiten als Glaubensquellen
verwarfen und hinsichtlich des dritten Punktes dem Staate einen großen Ein¬
fluß gewährten.

Die Partei der Remonstrcmten, als politische Vertreterin der ständischen
Rechte gegen die des Hauses Oranien, und des Provinzialismus gegen die
rationale Centralisation, ward bekanntlich von Prinz Moritz in ihren Führern
Oldenbarneveldt und Hugo de Groot politisch und von der Synode zu Dordrecht
kirchlich vernichtet, eristirte aber in beiden Beziehungen als Faction und Sekte
unter häufigen Reactionsversuchen, wie z. B. der Revolution von 1787, bis auf
den heutigen Tag fort, wo sie durch die politische Erschütterung von 1848
siegreich ward, aber schon 18S1 durch die Aprilbewegung wieder unterlag.
Freilich hat der Zahn der Zeit an diesen Gegensätzen genagt, aber nicht so
stark, daß sie nicht noch deutlich zu erkennen wären. Der Nemonstrantismus
hat die politischen Principien des liberalen Bürgerthums adoptirt und steht
religiös hart an der Grenze des Humanismus, sein gegenwärtiges Bündniß
mit den Katholiken ist aber sowenig neu, daß schon die Zeiten vor Oldenbarneveldt
und de Groot dasselbe gesehen haben, und, wie es scheint, beide Male mit


eine Unmöglichkeit; eine pantheistische und eine materialistische Weltanschauung
darf sich auf keinem wissenschaftlichen Gebiete, selbst nicht dem der Natur¬
wissenschaft vor das Publicum wagen, wie noch das jüngste Beispiel Mole¬
schotts zeigt, dessen wissenschaftliches Ansehen und sociale Stellung in den
Niederlanden mit einem Schlage vernichtet waren, als er den Materialismus
bekannte; die Philosophie, welche officiell gelehrt wird, ist ein etwas moderni-
sirter Wolfianiömus, der über die wichtigsten Fragen oberflächlich hinweg¬
schlüpft oder an der Hand religiöser Dogmata hinwegspringt, und die Be¬
kanntschaft Mit der deutschen Philosophie hört bei Kant größtentheils auf.
Kann man durchaus nicht umhin, der neuesten Philosophie zu erwähnen, so
sind die beiden einzigen Waffen, mit denen* man sie bekämpft, die religiös-dog¬
matische und die praktisch-sociale, von denen die erste natürlich theoretisch nichts,
die andere für die Praxis zwar viel, aber für die Theorie nichts vermag, dem
Holländer aber genügen, weil er die Wissenschaft den Anforderungen des
socialen Lebens, dieses dem Dogma unterordnet.

Daher finden religiös-dogmatische Streitigkeiten nirgend, vielleicht mit
Ausnahme Schottlands, ein eifrigeres Publicum als in den Niederlanden, und
der rothe Faden, welcher sich durch dieselben hindurchzieht, ist noch immer der¬
selbe, wie zur Zeit des Oldenbarneveldt und Hugo Grotius, nämlich der Gegen¬
satz der remonstrantischen und contraremonstrantischm Auffassung der reformirten
Lehre, welcher bekanntlich die Lehre von der Prädestination und Gnadenwahl,
die Symbola und die Selbstständigkeit der Kirche gegenüber den Staat betraf,
von welchen Punkten die Remoustranten hinsichtlich des ersten eine humane, wenn
auch herzlich unlogische Auffassung hatten, die zweiten als Glaubensquellen
verwarfen und hinsichtlich des dritten Punktes dem Staate einen großen Ein¬
fluß gewährten.

Die Partei der Remonstrcmten, als politische Vertreterin der ständischen
Rechte gegen die des Hauses Oranien, und des Provinzialismus gegen die
rationale Centralisation, ward bekanntlich von Prinz Moritz in ihren Führern
Oldenbarneveldt und Hugo de Groot politisch und von der Synode zu Dordrecht
kirchlich vernichtet, eristirte aber in beiden Beziehungen als Faction und Sekte
unter häufigen Reactionsversuchen, wie z. B. der Revolution von 1787, bis auf
den heutigen Tag fort, wo sie durch die politische Erschütterung von 1848
siegreich ward, aber schon 18S1 durch die Aprilbewegung wieder unterlag.
Freilich hat der Zahn der Zeit an diesen Gegensätzen genagt, aber nicht so
stark, daß sie nicht noch deutlich zu erkennen wären. Der Nemonstrantismus
hat die politischen Principien des liberalen Bürgerthums adoptirt und steht
religiös hart an der Grenze des Humanismus, sein gegenwärtiges Bündniß
mit den Katholiken ist aber sowenig neu, daß schon die Zeiten vor Oldenbarneveldt
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/90>, abgerufen am 22.07.2024.