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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Sdiederläitdifcho Zustände.
'''''

Den meisten Deutschen gelte" die Holländer für egoistische Krämer, bei
denen demzufolge Literatur und Kunst höchstens als Mode- und Putzartikel
reicher Bourgeois eine relative Beachtung fänden; auch sei an eine nationale
und selbstständige Geistesbildung sowenig zu denken, daß das geistige Leben
der Niederländer vielmehr ein Mischmasch der englischen, französischen und
deutschen Entwicklungen sei und immerfort bleiben werde. Um zu sehen, wie
weit Wahres und Falsches in dieser gäng und geben Beurtheilung enthalten
sei, wollen wir auseinandersetzen , wie und wie hoch das niederländische Volk
Wissenschaft, Literatur und Kunst tarirt, wie es dieselben pflegt und benutzt,
sodann einige der wichtigsten Leistungen näher betrachten.

Die Hauptmerkmale der niederländischen geistigen Entwicklung sind ein
unbedingter christlicher Standpunkt der Auffassung und Beurtheilung, völliges
Fehlen eines büreaukratischen Einflusses, Mangel wie Scheu vor logischer Kon¬
sequenz und Kleben am Gewesenen, Gegenwärtigen und Autoritäten.

Was den ersten Punkt betrifft, so ist es eine Thatsache, daß die vielen
berühmten Freidenker, welche sich während der letzten Jahrhunderte in den
Niederlanden als europäischer geistiger Freistätte aufgehalten haben, auf den
religiösen Sinn des Volkes wie der Gebildeten nicht den geringsten Einfluß
geübt haben; die Niederländer betrachteten sie lediglich als Fremde, welche ihren
Geschäften ungestört nachgehen dürfen, solange sie nicht den niederländischen
Staat oder Niederländer beeinträchtigen; aber einen Bayle, Spinoza, Hobbes,
Voltaires, zu officiellen Verkündern der Wissenschaften zu machen, wäre eine
Unmöglichkeit gewesen, weil keine einzige niederländische wissenschaftliche Anstalt
bis zur heutigen Stunde den kirchlichen Boden auch nur auf einem entlegenen
Gebiete zu verlassen gewagt hat, Soviele religiöse Sekten auch die Niederlande
seit den drei letzten Jahrhunderten beherbergt haben und noch beherbergen, so
sind sie doch alle gleich den drei großen Confesstonen kirchliche, dogmatisch¬
christliche, und wäre eine freigemeindliche Sekte in den Niederlanden gradezu


Grenjbotcn. IV. 48si- 11
Sdiederläitdifcho Zustände.
'''''

Den meisten Deutschen gelte» die Holländer für egoistische Krämer, bei
denen demzufolge Literatur und Kunst höchstens als Mode- und Putzartikel
reicher Bourgeois eine relative Beachtung fänden; auch sei an eine nationale
und selbstständige Geistesbildung sowenig zu denken, daß das geistige Leben
der Niederländer vielmehr ein Mischmasch der englischen, französischen und
deutschen Entwicklungen sei und immerfort bleiben werde. Um zu sehen, wie
weit Wahres und Falsches in dieser gäng und geben Beurtheilung enthalten
sei, wollen wir auseinandersetzen , wie und wie hoch das niederländische Volk
Wissenschaft, Literatur und Kunst tarirt, wie es dieselben pflegt und benutzt,
sodann einige der wichtigsten Leistungen näher betrachten.

Die Hauptmerkmale der niederländischen geistigen Entwicklung sind ein
unbedingter christlicher Standpunkt der Auffassung und Beurtheilung, völliges
Fehlen eines büreaukratischen Einflusses, Mangel wie Scheu vor logischer Kon¬
sequenz und Kleben am Gewesenen, Gegenwärtigen und Autoritäten.

Was den ersten Punkt betrifft, so ist es eine Thatsache, daß die vielen
berühmten Freidenker, welche sich während der letzten Jahrhunderte in den
Niederlanden als europäischer geistiger Freistätte aufgehalten haben, auf den
religiösen Sinn des Volkes wie der Gebildeten nicht den geringsten Einfluß
geübt haben; die Niederländer betrachteten sie lediglich als Fremde, welche ihren
Geschäften ungestört nachgehen dürfen, solange sie nicht den niederländischen
Staat oder Niederländer beeinträchtigen; aber einen Bayle, Spinoza, Hobbes,
Voltaires, zu officiellen Verkündern der Wissenschaften zu machen, wäre eine
Unmöglichkeit gewesen, weil keine einzige niederländische wissenschaftliche Anstalt
bis zur heutigen Stunde den kirchlichen Boden auch nur auf einem entlegenen
Gebiete zu verlassen gewagt hat, Soviele religiöse Sekten auch die Niederlande
seit den drei letzten Jahrhunderten beherbergt haben und noch beherbergen, so
sind sie doch alle gleich den drei großen Confesstonen kirchliche, dogmatisch¬
christliche, und wäre eine freigemeindliche Sekte in den Niederlanden gradezu


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[0089] Sdiederläitdifcho Zustände. ''''' Den meisten Deutschen gelte» die Holländer für egoistische Krämer, bei denen demzufolge Literatur und Kunst höchstens als Mode- und Putzartikel reicher Bourgeois eine relative Beachtung fänden; auch sei an eine nationale und selbstständige Geistesbildung sowenig zu denken, daß das geistige Leben der Niederländer vielmehr ein Mischmasch der englischen, französischen und deutschen Entwicklungen sei und immerfort bleiben werde. Um zu sehen, wie weit Wahres und Falsches in dieser gäng und geben Beurtheilung enthalten sei, wollen wir auseinandersetzen , wie und wie hoch das niederländische Volk Wissenschaft, Literatur und Kunst tarirt, wie es dieselben pflegt und benutzt, sodann einige der wichtigsten Leistungen näher betrachten. Die Hauptmerkmale der niederländischen geistigen Entwicklung sind ein unbedingter christlicher Standpunkt der Auffassung und Beurtheilung, völliges Fehlen eines büreaukratischen Einflusses, Mangel wie Scheu vor logischer Kon¬ sequenz und Kleben am Gewesenen, Gegenwärtigen und Autoritäten. Was den ersten Punkt betrifft, so ist es eine Thatsache, daß die vielen berühmten Freidenker, welche sich während der letzten Jahrhunderte in den Niederlanden als europäischer geistiger Freistätte aufgehalten haben, auf den religiösen Sinn des Volkes wie der Gebildeten nicht den geringsten Einfluß geübt haben; die Niederländer betrachteten sie lediglich als Fremde, welche ihren Geschäften ungestört nachgehen dürfen, solange sie nicht den niederländischen Staat oder Niederländer beeinträchtigen; aber einen Bayle, Spinoza, Hobbes, Voltaires, zu officiellen Verkündern der Wissenschaften zu machen, wäre eine Unmöglichkeit gewesen, weil keine einzige niederländische wissenschaftliche Anstalt bis zur heutigen Stunde den kirchlichen Boden auch nur auf einem entlegenen Gebiete zu verlassen gewagt hat, Soviele religiöse Sekten auch die Niederlande seit den drei letzten Jahrhunderten beherbergt haben und noch beherbergen, so sind sie doch alle gleich den drei großen Confesstonen kirchliche, dogmatisch¬ christliche, und wäre eine freigemeindliche Sekte in den Niederlanden gradezu Grenjbotcn. IV. 48si- 11

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/89>, abgerufen am 22.07.2024.