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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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den Geisteswendungen, die uns Heines Erscheinung trotz aller Achtung vor
seinem Talent gradezu unerträglich machen.

Abgesehen von diesen unangenehmen Stellen sind wieder, wie sich bei
Heine erwarten läßt^ einzelne allerliebste Einfälle darin. Am besten hat uns
die Erzählung von dem französischen Küster gefallen, der ihm die Legende vom
heiligen Dionysius erzählt. Der böse Heidenkönig hatte ihn enthaupten lassen,
was ihn aber keineswegs abhielt, mit dem Kopf in der Hand von Paris nach
Saint-Denis zu laufen, um sich dort begraben zu lassen und dem Ort seinen
Namen zu geben. "Wenn man die Entfernung bedenkt, so muß man sich ver¬
wundern, daß jemand ohne Kopf soweit habe zu Fuß gehen können; indessen
in solchen Fällen it r>',y s. "Mo 16 prowisr eas cM vouee." --

In demselben Heft ist ein Artikel über die poetische Schule Shelleys in
England, von Arthur Dudley, bei Gelegenheit der Besprechung einiger
jüngeren Dichter, Mathew Arnold, Alexander Smith und Julian Falte. Wir
stimmen vollständig mit der Ansicht überein, daß der Einfluß Shelleys und
der deutschen Dichter von ähnlicher Richtung sich in der jungenglischen Poesie
immer weiter ausdehnt, wir haben aber darüber die entgegengesetzte Empfindung,
wir halten es für ein Unglück. Ein großes Talent wird Shelley niemand
absprechen; aber kein Dichter war so wenig englisch, so entgegengesetzt dem ge¬
sunden Menschenverstand und dem natürlichen Gefühl des Volks. Die An¬
sichten, die sein Verehrer über andere Dichter entwickelt, namentlich über Byron,
den er tief unter Shelley stellt, sind wahrhaft erstaunlich. -- Ein anderer
Artikel von Gustave Planche über Prosper M6rim(>e entwickelt logisch und
correct, aber in der bekannten trocknen und monotonen Manier dieses Kritikers,
die nachgrade etwas sehr Ermüdendes hat, die großen Vorzüge dieses im Ver¬
hältniß zu seiner Zeit noch immer nicht genug gewürdigten Dichters, namentlich
seine Naturwahrheit und künstlerische Mäßigung auch bei extravaganten Stoffen.

Nebenbei müssen wir eine Bemerkung machen, die sich zum Theil auf den
vorstehenden Bericht unsres Korrespondenten über die Pariser Journalisten
bezieht. Was die localen Berühmtheiten betrifft, von denen er uns nächstens
ein ausführlicheres Bild zu geben versprochen hat, so haben wir darüber natürlich
kein Urtheil. Wenn er aber seine Verdammung über die wirklichen Kritiker Frank¬
reichs ausdehnen, und diese unter ihre Kollegen in Deutschland und unter ihre poe¬
tischen Landsleute stellen wollte, so könnten wir dieser Ansicht nicht beipflichten.
Wir finden in der Revue de deur mondes unter den Kritikern, namentlich unter
denen, die sich mit der englischen Poesie beschäftigen, einen ganz entschiedenen
Fortschritt zum Bessern, ein ernstes und energisches Bestreben, Principien fest¬
zustellen und dabei ein gebildetes, nach allen Seiten gerechtes Urtheil zu wagen.
Die heutige französische Prosa ist sehr viel besser, als die Prosa, die vor zwanzig
Jahren geschrieben wurde, sie ist männlicher, gesinnungsvoller und gebildeter


den Geisteswendungen, die uns Heines Erscheinung trotz aller Achtung vor
seinem Talent gradezu unerträglich machen.

Abgesehen von diesen unangenehmen Stellen sind wieder, wie sich bei
Heine erwarten läßt^ einzelne allerliebste Einfälle darin. Am besten hat uns
die Erzählung von dem französischen Küster gefallen, der ihm die Legende vom
heiligen Dionysius erzählt. Der böse Heidenkönig hatte ihn enthaupten lassen,
was ihn aber keineswegs abhielt, mit dem Kopf in der Hand von Paris nach
Saint-Denis zu laufen, um sich dort begraben zu lassen und dem Ort seinen
Namen zu geben. „Wenn man die Entfernung bedenkt, so muß man sich ver¬
wundern, daß jemand ohne Kopf soweit habe zu Fuß gehen können; indessen
in solchen Fällen it r>',y s. «Mo 16 prowisr eas cM vouee." —

In demselben Heft ist ein Artikel über die poetische Schule Shelleys in
England, von Arthur Dudley, bei Gelegenheit der Besprechung einiger
jüngeren Dichter, Mathew Arnold, Alexander Smith und Julian Falte. Wir
stimmen vollständig mit der Ansicht überein, daß der Einfluß Shelleys und
der deutschen Dichter von ähnlicher Richtung sich in der jungenglischen Poesie
immer weiter ausdehnt, wir haben aber darüber die entgegengesetzte Empfindung,
wir halten es für ein Unglück. Ein großes Talent wird Shelley niemand
absprechen; aber kein Dichter war so wenig englisch, so entgegengesetzt dem ge¬
sunden Menschenverstand und dem natürlichen Gefühl des Volks. Die An¬
sichten, die sein Verehrer über andere Dichter entwickelt, namentlich über Byron,
den er tief unter Shelley stellt, sind wahrhaft erstaunlich. — Ein anderer
Artikel von Gustave Planche über Prosper M6rim(>e entwickelt logisch und
correct, aber in der bekannten trocknen und monotonen Manier dieses Kritikers,
die nachgrade etwas sehr Ermüdendes hat, die großen Vorzüge dieses im Ver¬
hältniß zu seiner Zeit noch immer nicht genug gewürdigten Dichters, namentlich
seine Naturwahrheit und künstlerische Mäßigung auch bei extravaganten Stoffen.

Nebenbei müssen wir eine Bemerkung machen, die sich zum Theil auf den
vorstehenden Bericht unsres Korrespondenten über die Pariser Journalisten
bezieht. Was die localen Berühmtheiten betrifft, von denen er uns nächstens
ein ausführlicheres Bild zu geben versprochen hat, so haben wir darüber natürlich
kein Urtheil. Wenn er aber seine Verdammung über die wirklichen Kritiker Frank¬
reichs ausdehnen, und diese unter ihre Kollegen in Deutschland und unter ihre poe¬
tischen Landsleute stellen wollte, so könnten wir dieser Ansicht nicht beipflichten.
Wir finden in der Revue de deur mondes unter den Kritikern, namentlich unter
denen, die sich mit der englischen Poesie beschäftigen, einen ganz entschiedenen
Fortschritt zum Bessern, ein ernstes und energisches Bestreben, Principien fest¬
zustellen und dabei ein gebildetes, nach allen Seiten gerechtes Urtheil zu wagen.
Die heutige französische Prosa ist sehr viel besser, als die Prosa, die vor zwanzig
Jahren geschrieben wurde, sie ist männlicher, gesinnungsvoller und gebildeter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/78>, abgerufen am 22.07.2024.