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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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. ein Priesterthum, bei dem man nur durch Beruf und durch Talent Aufnahme
bekam. Die Gesellschaft war damals, in den letzten Jahren der Restauration
und in den ersten Jahren nach der Julirevolution, weniger materiell. Die
französische Intelligenz stand den freiheitlichen Interessen zur Seite, der Glaube
an das Schöne war noch nicht erschüttert und in der Politik wie in der Literatur
herrschte jene innige Gewaltigkeit des Lebens, welche eine starke Ueberzeugung
allein zu verleihen im Stande ist. Man kämpfte für ein Regierungssystem
nicht mit mehr Leidenschaft als für eine Richtung in der Literatur oder in der
Kunst. Alle Regionen der französischen Intelligenz waren von jugendlichem
Feuer durchdrungen. Man hatte eine Fahne in der Politik wie in der
Literatur. Da begann das bekannte Corruptionssystem, das allmälig die herr¬
schenden Classen angefressen. Die Jugend sah mit Entsetzen nach und nach
ihre angebeteten Größen in den Schlamm versinken. Die Großen zogen die
Kleinen nach sich, die Presse wurde wie in der Politik als Borstube eines
Ministeriums, in der Kritik oder in der Literatur als Mittel zu leichterwor¬
benen Reichthümern betrachtet.. Man sah nur die außerordentlichen Erfolge
jener Schriftsteller vor sich, und da diese ihr Glück nicht eben den gelungen¬
sten Schöpfungen ihres Geistes, nicht grade ihrer nachahmungswerthen Seile
zu verdanken hatten, so wurde dieser am meisten nachgestrebt. Die letztjährigen
Revolutionen und Contrerevolutioncn haben nichts dazu beigetragen, die feder¬
führende Classe zu ihrer würdevollen Stellung von ehemals zurückzurufen,
denn im Rausche der Bewegung haben sich die Schwachgesinntcn weiterreißcn
lassen, als es ihre Ueberzeugung erlauben sollte, und sie rächten ihre eigne
Charakterlosigkeit durch um so auffallendere Rückfälle während der Zeit der Reac¬
tion. Die Blutlosigkeit der Republik, die Abwesenheit alles Terrorismus wäh¬
rend derselben, dies führte ihnen später ihre ganze Erbärmlichkeit zu Gemüthe und
sie wollten sich in ihren eignen Augen durch Andichtungen jeder Art entschul¬
digen und zugleich ihr neues Nenegatcnthum durch retrospective Lügen be¬
schönigen. Die Journalistik ist aber seit der Julirevolution die vorherrschende
Thätigkeit des französischen Schriftstellerthums in einem Maße geworden, daß
auch die Literatur und alles waS mit dieser zusammenhängt, vorzüglich aber
die Kritik in denselben Strudel des Verderbnisses gerissen wurde. Sowie die
materialistische Skepsis in der Politik jeden Abfall erklärt, so macht die ebenso
materialistische Gleichgiltigkeit in Literatur- und Kunstsachen den Leichtsinn, die
Gewissenlosigkeit und die Liederlichkeit begreiflich, mit der im allgemeinen die
Kritik in Frankreich gehandhabt, wird. Ich mag nicht in Abrede stellen, daß
auch vordem die Kritik, das sogenannte Feuilleton, oft mit Parteilichkeit ge¬
leitet wurde. Es war aber eine Parteilichkeit, welche einen großen Grundsatz
im Schilde führte. Wenn V. Hugos Werken z. B. von seinen Anhängern
oft eine unbedingte Bewunderung gezollt wurde, die sie nie verdient hätten,


. ein Priesterthum, bei dem man nur durch Beruf und durch Talent Aufnahme
bekam. Die Gesellschaft war damals, in den letzten Jahren der Restauration
und in den ersten Jahren nach der Julirevolution, weniger materiell. Die
französische Intelligenz stand den freiheitlichen Interessen zur Seite, der Glaube
an das Schöne war noch nicht erschüttert und in der Politik wie in der Literatur
herrschte jene innige Gewaltigkeit des Lebens, welche eine starke Ueberzeugung
allein zu verleihen im Stande ist. Man kämpfte für ein Regierungssystem
nicht mit mehr Leidenschaft als für eine Richtung in der Literatur oder in der
Kunst. Alle Regionen der französischen Intelligenz waren von jugendlichem
Feuer durchdrungen. Man hatte eine Fahne in der Politik wie in der
Literatur. Da begann das bekannte Corruptionssystem, das allmälig die herr¬
schenden Classen angefressen. Die Jugend sah mit Entsetzen nach und nach
ihre angebeteten Größen in den Schlamm versinken. Die Großen zogen die
Kleinen nach sich, die Presse wurde wie in der Politik als Borstube eines
Ministeriums, in der Kritik oder in der Literatur als Mittel zu leichterwor¬
benen Reichthümern betrachtet.. Man sah nur die außerordentlichen Erfolge
jener Schriftsteller vor sich, und da diese ihr Glück nicht eben den gelungen¬
sten Schöpfungen ihres Geistes, nicht grade ihrer nachahmungswerthen Seile
zu verdanken hatten, so wurde dieser am meisten nachgestrebt. Die letztjährigen
Revolutionen und Contrerevolutioncn haben nichts dazu beigetragen, die feder¬
führende Classe zu ihrer würdevollen Stellung von ehemals zurückzurufen,
denn im Rausche der Bewegung haben sich die Schwachgesinntcn weiterreißcn
lassen, als es ihre Ueberzeugung erlauben sollte, und sie rächten ihre eigne
Charakterlosigkeit durch um so auffallendere Rückfälle während der Zeit der Reac¬
tion. Die Blutlosigkeit der Republik, die Abwesenheit alles Terrorismus wäh¬
rend derselben, dies führte ihnen später ihre ganze Erbärmlichkeit zu Gemüthe und
sie wollten sich in ihren eignen Augen durch Andichtungen jeder Art entschul¬
digen und zugleich ihr neues Nenegatcnthum durch retrospective Lügen be¬
schönigen. Die Journalistik ist aber seit der Julirevolution die vorherrschende
Thätigkeit des französischen Schriftstellerthums in einem Maße geworden, daß
auch die Literatur und alles waS mit dieser zusammenhängt, vorzüglich aber
die Kritik in denselben Strudel des Verderbnisses gerissen wurde. Sowie die
materialistische Skepsis in der Politik jeden Abfall erklärt, so macht die ebenso
materialistische Gleichgiltigkeit in Literatur- und Kunstsachen den Leichtsinn, die
Gewissenlosigkeit und die Liederlichkeit begreiflich, mit der im allgemeinen die
Kritik in Frankreich gehandhabt, wird. Ich mag nicht in Abrede stellen, daß
auch vordem die Kritik, das sogenannte Feuilleton, oft mit Parteilichkeit ge¬
leitet wurde. Es war aber eine Parteilichkeit, welche einen großen Grundsatz
im Schilde führte. Wenn V. Hugos Werken z. B. von seinen Anhängern
oft eine unbedingte Bewunderung gezollt wurde, die sie nie verdient hätten,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/71>, abgerufen am 29.12.2024.