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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Großvezier unter den Massen ist und daß seine Gegner unter der alttürkischen
Fraction im Divan ihn von jeher als einen vom Zaren bestochenen Verräther
hinzustellen suchten. Daß er der Automat ist, den Lord Stratsord in Bewegung
setzt, versteht natürlich ein osmanischer^Hadschi Baba (Vater-Pilger),, ein recht¬
gläubiger Kaikschi (Kahnführer) und ein türkischer Pastetenbäcker nicht, und
vermag solches Verhältniß durchaus nicht zu sassen.

Meiner Ansicht nach kann man sich damit zufrieden geben, wenn England
hier dominirt. Seine diplomatische Herrschaft ist wol °der jedes andern Staats,
der daran denken möchte, eine solche auszüben, vorzuziehen, ganz entschieden
aber halten die Staatsmaßnahmen unter der Aufsicht des Lords eine sicherere
Bahn inne, als wenn ein Alttürke, wie Mehemed Ali Pascha, sie selbstständig
vorzuzeichnen hätte. Man wolle sich nur an die Wirrnisse erinnern, welche
das Jahr 18S2 schlössen, und das nachfolgende (18S3) einleiteten. Bei un¬
parteiischer Beurtheilung wird man auch nichts von der vielverschrienen eng¬
lischen Selbstsucht in dem wahrnehmen, was Se. Herrlichkeit als britischen
Rath den osmanischen Ministern an die Hand gibt. Lord Stratsord de Red-
cliffe ist ein Mann, der sehr wohl von politischen Intriguanten a la Lavalette
unterschieden werden will und dessen Manieren ebensosehr von dem brüsten
Auftreten eines Menschikoff abweichen. Alles in ihm und von ihm deutet auf
den ruhigen, Überlegsamen, maßhaltenden, aber dabei consequenten und festen
Charakter. Jeder, der Gelegenheit gehabt hat, ihn zu sehen, wird schon aus
seiner äußeren Erscheinung diese Grundzüge herauserkannt haben, so offen gibt
er sich, bei all seinem sonstigen diplomatischen Wesen.

Man redet seit kurzem hier nicht mehr über Herrn Thouvenel, von dem
es hieß: er werde nach Konstantinopel gesendet werden, um Frankreich daselbst
als Ambassadeur zu vertreten. Wie es scheint, will Kaiser Napoleon Hi. der
Entstehung eines neuen Conflicts, im Sinne jenes ersten zwischen Paraguay
und Stratsord ausweichen, indem er das etwas reizbare, leicht verletzliche Na¬
turell des letzteren fürchtet, zugleich aber von der Solidarität der französischen
und englischen Interessen im Orient zu sehr überzeugt ist, um eine zeitweise,
speciellere Vertretung der ersteren für nöthig zu erachten.

Herr Benedctti ist, nach wie vor, kaiserlich französischer Geschäftsträger,
und wenn hier nicht Name und Rang in Anschlag kommen, konnte Frankreich
kaum durch einen andren Diplomaten besser repräsentirt werden. Der in Rede
Stehende hat im besonderen eine ausgezeichnete Localkenntniß ^ur sich, und
war schon unter seinen früheren Chefs die eigentliche Seele von deren diplo¬
matischer Action.

Das Wetter ist, seit einer Reihe von Tagen, ganz ungewöhnlich mild.
Die meisten Bewohner Stambuls haben wol seit einer Woche der Kohlenbecken
in ihren Zimmern nicht bedurft. Heute scheint die Sonne beinahe heiß und


Großvezier unter den Massen ist und daß seine Gegner unter der alttürkischen
Fraction im Divan ihn von jeher als einen vom Zaren bestochenen Verräther
hinzustellen suchten. Daß er der Automat ist, den Lord Stratsord in Bewegung
setzt, versteht natürlich ein osmanischer^Hadschi Baba (Vater-Pilger),, ein recht¬
gläubiger Kaikschi (Kahnführer) und ein türkischer Pastetenbäcker nicht, und
vermag solches Verhältniß durchaus nicht zu sassen.

Meiner Ansicht nach kann man sich damit zufrieden geben, wenn England
hier dominirt. Seine diplomatische Herrschaft ist wol °der jedes andern Staats,
der daran denken möchte, eine solche auszüben, vorzuziehen, ganz entschieden
aber halten die Staatsmaßnahmen unter der Aufsicht des Lords eine sicherere
Bahn inne, als wenn ein Alttürke, wie Mehemed Ali Pascha, sie selbstständig
vorzuzeichnen hätte. Man wolle sich nur an die Wirrnisse erinnern, welche
das Jahr 18S2 schlössen, und das nachfolgende (18S3) einleiteten. Bei un¬
parteiischer Beurtheilung wird man auch nichts von der vielverschrienen eng¬
lischen Selbstsucht in dem wahrnehmen, was Se. Herrlichkeit als britischen
Rath den osmanischen Ministern an die Hand gibt. Lord Stratsord de Red-
cliffe ist ein Mann, der sehr wohl von politischen Intriguanten a la Lavalette
unterschieden werden will und dessen Manieren ebensosehr von dem brüsten
Auftreten eines Menschikoff abweichen. Alles in ihm und von ihm deutet auf
den ruhigen, Überlegsamen, maßhaltenden, aber dabei consequenten und festen
Charakter. Jeder, der Gelegenheit gehabt hat, ihn zu sehen, wird schon aus
seiner äußeren Erscheinung diese Grundzüge herauserkannt haben, so offen gibt
er sich, bei all seinem sonstigen diplomatischen Wesen.

Man redet seit kurzem hier nicht mehr über Herrn Thouvenel, von dem
es hieß: er werde nach Konstantinopel gesendet werden, um Frankreich daselbst
als Ambassadeur zu vertreten. Wie es scheint, will Kaiser Napoleon Hi. der
Entstehung eines neuen Conflicts, im Sinne jenes ersten zwischen Paraguay
und Stratsord ausweichen, indem er das etwas reizbare, leicht verletzliche Na¬
turell des letzteren fürchtet, zugleich aber von der Solidarität der französischen
und englischen Interessen im Orient zu sehr überzeugt ist, um eine zeitweise,
speciellere Vertretung der ersteren für nöthig zu erachten.

Herr Benedctti ist, nach wie vor, kaiserlich französischer Geschäftsträger,
und wenn hier nicht Name und Rang in Anschlag kommen, konnte Frankreich
kaum durch einen andren Diplomaten besser repräsentirt werden. Der in Rede
Stehende hat im besonderen eine ausgezeichnete Localkenntniß ^ur sich, und
war schon unter seinen früheren Chefs die eigentliche Seele von deren diplo¬
matischer Action.

Das Wetter ist, seit einer Reihe von Tagen, ganz ungewöhnlich mild.
Die meisten Bewohner Stambuls haben wol seit einer Woche der Kohlenbecken
in ihren Zimmern nicht bedurft. Heute scheint die Sonne beinahe heiß und


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[0468] Großvezier unter den Massen ist und daß seine Gegner unter der alttürkischen Fraction im Divan ihn von jeher als einen vom Zaren bestochenen Verräther hinzustellen suchten. Daß er der Automat ist, den Lord Stratsord in Bewegung setzt, versteht natürlich ein osmanischer^Hadschi Baba (Vater-Pilger),, ein recht¬ gläubiger Kaikschi (Kahnführer) und ein türkischer Pastetenbäcker nicht, und vermag solches Verhältniß durchaus nicht zu sassen. Meiner Ansicht nach kann man sich damit zufrieden geben, wenn England hier dominirt. Seine diplomatische Herrschaft ist wol °der jedes andern Staats, der daran denken möchte, eine solche auszüben, vorzuziehen, ganz entschieden aber halten die Staatsmaßnahmen unter der Aufsicht des Lords eine sicherere Bahn inne, als wenn ein Alttürke, wie Mehemed Ali Pascha, sie selbstständig vorzuzeichnen hätte. Man wolle sich nur an die Wirrnisse erinnern, welche das Jahr 18S2 schlössen, und das nachfolgende (18S3) einleiteten. Bei un¬ parteiischer Beurtheilung wird man auch nichts von der vielverschrienen eng¬ lischen Selbstsucht in dem wahrnehmen, was Se. Herrlichkeit als britischen Rath den osmanischen Ministern an die Hand gibt. Lord Stratsord de Red- cliffe ist ein Mann, der sehr wohl von politischen Intriguanten a la Lavalette unterschieden werden will und dessen Manieren ebensosehr von dem brüsten Auftreten eines Menschikoff abweichen. Alles in ihm und von ihm deutet auf den ruhigen, Überlegsamen, maßhaltenden, aber dabei consequenten und festen Charakter. Jeder, der Gelegenheit gehabt hat, ihn zu sehen, wird schon aus seiner äußeren Erscheinung diese Grundzüge herauserkannt haben, so offen gibt er sich, bei all seinem sonstigen diplomatischen Wesen. Man redet seit kurzem hier nicht mehr über Herrn Thouvenel, von dem es hieß: er werde nach Konstantinopel gesendet werden, um Frankreich daselbst als Ambassadeur zu vertreten. Wie es scheint, will Kaiser Napoleon Hi. der Entstehung eines neuen Conflicts, im Sinne jenes ersten zwischen Paraguay und Stratsord ausweichen, indem er das etwas reizbare, leicht verletzliche Na¬ turell des letzteren fürchtet, zugleich aber von der Solidarität der französischen und englischen Interessen im Orient zu sehr überzeugt ist, um eine zeitweise, speciellere Vertretung der ersteren für nöthig zu erachten. Herr Benedctti ist, nach wie vor, kaiserlich französischer Geschäftsträger, und wenn hier nicht Name und Rang in Anschlag kommen, konnte Frankreich kaum durch einen andren Diplomaten besser repräsentirt werden. Der in Rede Stehende hat im besonderen eine ausgezeichnete Localkenntniß ^ur sich, und war schon unter seinen früheren Chefs die eigentliche Seele von deren diplo¬ matischer Action. Das Wetter ist, seit einer Reihe von Tagen, ganz ungewöhnlich mild. Die meisten Bewohner Stambuls haben wol seit einer Woche der Kohlenbecken in ihren Zimmern nicht bedurft. Heute scheint die Sonne beinahe heiß und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/468>, abgerufen am 22.07.2024.