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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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da grade auf das Naheliegende die Aufmerksamkeit sich am wenigsten richtet.
Möchte durch eine recht weite Verbreitung dieses inhaltreichen Buchs die Ein¬
sicht in den Zusammenhang des Lebens und damit das Gefühl für Wahrheit
überhaupt immer mehr entwickelt werden. --

Gewissermaßen ein Seitenstück zu dieser populären Darstellung der Chemie
ist das Werk des Professor Bock. Die strengen Ansichten des Verfassers über
die moderne Medicin als Kunst betrachtet sind bekannt. Desto größere Achtung
hegt er vor der Medicin als Wissenschaft. Nach seiner Ansicht hat die Heil¬
kunst vor allen Dingen dahin zu trachten, die Menschen aus das natürliche und
der Beschaffenheit des Leibes angemessene Leben aufmerksam zu machen, um
dadurch die Krankheit zu vermeiden, die durch ein Eingreifen Äußerlicher Mittel
nur in den seltensten Fällen gehoben werden kann. Was Krankheit ist (die
Unterbrechung des regelmäßigen Stoffwechsels im menschlichen Körper), kann
nur dann richtig erkannt werden, wenn man sich vorher den normalen Zustand
des Lebens klar gemacht hat. Da sich aber auch die Gesetze des menschlichen
Organismus zum großen Theil auf Gesetze zurückführen lassen, die in der ganzen
Natur gelten, so muß die Erläuterung dieser allgemeinen Gesetze dem eigentlich
physiologischen Theil vorausgehen. Der Verfasser entwickelt zuerst die Grund¬
begriffe der anorganischen Chemie und geht dann aus die höhere Form der Stoff¬
verbindungen ein, die man Organismus oder Leben nennt. Er stellt in ein¬
fachen, leicht übersichtlichen Zügen den innern Zusammenhang des menschlichen
Körpers dar, die Gesetze seiner Fortbildung und die Bedingungen, unter denen
dieselben zweckmäßig von Statten geht, um aus jedem Naturgesetz zu¬
gleich eine Regel für das zweckmäßige Verhalten herzuleiten. Allen äußern
Ausputz hat er sorgfältig vermieden und sich dagegen bemüht, durch künst¬
lerische Ordnung und Gestaltung seines Stoffs einen eindringenden und über¬
zeugenden Eindruck zu machen. Dies ist die einzig richtige - Form der
Popularität für wissenschaftliche Werke, und wenn auch der Hauptzweck des
Verfassers ein pädagogischer ist, wenn die Regeln des Verhaltens, die er aus
den Naturgesetzen herleitet, ihm für diesen Fall wichtiger sind, als die Gesetze
selbst, so wir ddas Buch doch auch ein ganz objectives Interesse erregen. Denn
jeder gebildete Mensch hat die Pflicht, sich über seine eigne Natur klar zu
machen, und sein Interesse wird dieser Pflicht vollkommen entsprechen,
wenn man ihm uur eine lebendige Gelegenheit dazu gibt. Man wird von
manchen Seiten dieser Schrift den Vorwurf des Materialismus machen;
waS davon zu halten ist, hat in einem unsrer frühern Hefte die Abhandlung
über den Materialismus der Naturwissenschaft auseinandergesetzt. Materielle
Dinge kann man eben nicht anders behandeln, als materialistisch; im Gegen¬
theil wird der Geist am meisten dabei gewinnen, wenn man sich über seine
materielle Grundlage vollkommen klar macht; denn daß ein gesunder Geist auch


da grade auf das Naheliegende die Aufmerksamkeit sich am wenigsten richtet.
Möchte durch eine recht weite Verbreitung dieses inhaltreichen Buchs die Ein¬
sicht in den Zusammenhang des Lebens und damit das Gefühl für Wahrheit
überhaupt immer mehr entwickelt werden. —

Gewissermaßen ein Seitenstück zu dieser populären Darstellung der Chemie
ist das Werk des Professor Bock. Die strengen Ansichten des Verfassers über
die moderne Medicin als Kunst betrachtet sind bekannt. Desto größere Achtung
hegt er vor der Medicin als Wissenschaft. Nach seiner Ansicht hat die Heil¬
kunst vor allen Dingen dahin zu trachten, die Menschen aus das natürliche und
der Beschaffenheit des Leibes angemessene Leben aufmerksam zu machen, um
dadurch die Krankheit zu vermeiden, die durch ein Eingreifen Äußerlicher Mittel
nur in den seltensten Fällen gehoben werden kann. Was Krankheit ist (die
Unterbrechung des regelmäßigen Stoffwechsels im menschlichen Körper), kann
nur dann richtig erkannt werden, wenn man sich vorher den normalen Zustand
des Lebens klar gemacht hat. Da sich aber auch die Gesetze des menschlichen
Organismus zum großen Theil auf Gesetze zurückführen lassen, die in der ganzen
Natur gelten, so muß die Erläuterung dieser allgemeinen Gesetze dem eigentlich
physiologischen Theil vorausgehen. Der Verfasser entwickelt zuerst die Grund¬
begriffe der anorganischen Chemie und geht dann aus die höhere Form der Stoff¬
verbindungen ein, die man Organismus oder Leben nennt. Er stellt in ein¬
fachen, leicht übersichtlichen Zügen den innern Zusammenhang des menschlichen
Körpers dar, die Gesetze seiner Fortbildung und die Bedingungen, unter denen
dieselben zweckmäßig von Statten geht, um aus jedem Naturgesetz zu¬
gleich eine Regel für das zweckmäßige Verhalten herzuleiten. Allen äußern
Ausputz hat er sorgfältig vermieden und sich dagegen bemüht, durch künst¬
lerische Ordnung und Gestaltung seines Stoffs einen eindringenden und über¬
zeugenden Eindruck zu machen. Dies ist die einzig richtige - Form der
Popularität für wissenschaftliche Werke, und wenn auch der Hauptzweck des
Verfassers ein pädagogischer ist, wenn die Regeln des Verhaltens, die er aus
den Naturgesetzen herleitet, ihm für diesen Fall wichtiger sind, als die Gesetze
selbst, so wir ddas Buch doch auch ein ganz objectives Interesse erregen. Denn
jeder gebildete Mensch hat die Pflicht, sich über seine eigne Natur klar zu
machen, und sein Interesse wird dieser Pflicht vollkommen entsprechen,
wenn man ihm uur eine lebendige Gelegenheit dazu gibt. Man wird von
manchen Seiten dieser Schrift den Vorwurf des Materialismus machen;
waS davon zu halten ist, hat in einem unsrer frühern Hefte die Abhandlung
über den Materialismus der Naturwissenschaft auseinandergesetzt. Materielle
Dinge kann man eben nicht anders behandeln, als materialistisch; im Gegen¬
theil wird der Geist am meisten dabei gewinnen, wenn man sich über seine
materielle Grundlage vollkommen klar macht; denn daß ein gesunder Geist auch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/426>, abgerufen am 22.07.2024.