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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Sinn offenbare. Einer unsrer größten Dichter, Schiller, .hat mit scheußlichen
Gedichten und mit Trauerspielen debutirt, in denen unzweifelhaft das scheußliche
bei weitem das Poetische überwog; und daraus hat man das Gesetz herzu¬
leiten geglaubt, daß in jedem Dichter, der mit scheußlichen Liedern und Trauer¬
spielen debutirt, ein zweiter Schiller verborgen sei, und daß daher jeder Kritiker,
der diese verborgene Göttlichkeit nicht herauswitterte, eine Sünde gegen den
heiligen Geist der Poesie begehe. Wir wollen nicht erst darauf zurückgehen,
daß nicht jeder deutsche Dichter die Kinderkrankheiten hat durchmachen müssen,
daß z. B. Goethe in seinen beiden Erstlingsstückcn: "Götz" und "Werther"
zwei Dichtungen geschaffen hat, die in classischer Vollendung seinen besten
Werken zur Seite stehen. Jedenfalls beweisen die Kinderkrankheiten, wenn sie
auch bei starken Naturen vorkommen, doch an sich noch nicht die Stärke der
Natur. --- Wenn Alfred Meißner mit seiner heutigen Bildung einmal un¬
befangen seine früheren Gedichte ansieht, so wird er sich selbst sagen müssen, daß
ihr innerer Werth lange nicht dem. Ruf entspricht, den ihnen die damalige
Mode und Stimmung zutheilte. Wenn seine spätern dramatischen Versuche
das umgekehrte Schicksal hatten, wenn man das sehr bedeutende Talent, das
sich in ihnen aussprach, verkannte, so muß er das als eine natürliche Reaction
annehmen, die bei seinem natürlichen, lebhaften Trieb, sich immer weiter fort¬
zubilden, nur heilsam auf ihn wirken tanti. Doch wäre es zweckmäßig, wenn
er diese Fortbildung noch nach einer andern Seite hin versuchte, als bisher.
Zwar wird er auch in technischer Beziehung noch sehr viel lernen können, indeß
darin hat er in seinen beiden Dramen bereits recht viel geleistet; er weiß voll¬
kommen, wie man eine Begebenheit dramatisch erponiren, wie man das
Publicum zum Verständniß bringen und in Spannung erhalten soll, aber es
fehlt ihm noch an einem wirklichen Inhalt. Er kennt die Menschen, er kennt
den sittlichen Ernst der Gesellschaft noch nicht. Leider fällt die Jugend Meißners
in eine Zeit, wo die sogenannte Genialität über Dichter wie Schiller und
Goethe, namentlich über den erstem, weit hinaus gekommen zu sein glaubte.
Möge er jetzt einmal die Schillerschen Dramen nur von dieser Seite betrachten:
eine wie tiefe. Intuition des wirklichen Lebens sich in ihnen offenbart, mit
wie großen Zügen er den sittlichen Inhalt desselben auffaßt. Man hat von
Schiller immer nur einzelne gereimte Stichwörter im Kopf, die uns jetzt trivial
klingen, weil sämmtliche Spatzen deS deutschen Dichterwaldes ihm nachgesungen
haben. Aber man lasse einmal diese wohlklingenden Phrasen beiseite und
gehe auf seinen wirklichen Inhalt ein, und man wird von immer größerer Be¬
wunderung durchdrungen werden. Noch weit mehr ist das bei Goethe der
Fall. Der Grund davon liegt nicht blos in der Genialität dieser beiden
Männer, sondern in dem Ernst und in der Gründlichkeit ihrer Arbeit. Die
heutigen Dichter, die darin Jean Paul ähneln, halten jede Arbeit für ver-


Sinn offenbare. Einer unsrer größten Dichter, Schiller, .hat mit scheußlichen
Gedichten und mit Trauerspielen debutirt, in denen unzweifelhaft das scheußliche
bei weitem das Poetische überwog; und daraus hat man das Gesetz herzu¬
leiten geglaubt, daß in jedem Dichter, der mit scheußlichen Liedern und Trauer¬
spielen debutirt, ein zweiter Schiller verborgen sei, und daß daher jeder Kritiker,
der diese verborgene Göttlichkeit nicht herauswitterte, eine Sünde gegen den
heiligen Geist der Poesie begehe. Wir wollen nicht erst darauf zurückgehen,
daß nicht jeder deutsche Dichter die Kinderkrankheiten hat durchmachen müssen,
daß z. B. Goethe in seinen beiden Erstlingsstückcn: „Götz" und „Werther"
zwei Dichtungen geschaffen hat, die in classischer Vollendung seinen besten
Werken zur Seite stehen. Jedenfalls beweisen die Kinderkrankheiten, wenn sie
auch bei starken Naturen vorkommen, doch an sich noch nicht die Stärke der
Natur. -— Wenn Alfred Meißner mit seiner heutigen Bildung einmal un¬
befangen seine früheren Gedichte ansieht, so wird er sich selbst sagen müssen, daß
ihr innerer Werth lange nicht dem. Ruf entspricht, den ihnen die damalige
Mode und Stimmung zutheilte. Wenn seine spätern dramatischen Versuche
das umgekehrte Schicksal hatten, wenn man das sehr bedeutende Talent, das
sich in ihnen aussprach, verkannte, so muß er das als eine natürliche Reaction
annehmen, die bei seinem natürlichen, lebhaften Trieb, sich immer weiter fort¬
zubilden, nur heilsam auf ihn wirken tanti. Doch wäre es zweckmäßig, wenn
er diese Fortbildung noch nach einer andern Seite hin versuchte, als bisher.
Zwar wird er auch in technischer Beziehung noch sehr viel lernen können, indeß
darin hat er in seinen beiden Dramen bereits recht viel geleistet; er weiß voll¬
kommen, wie man eine Begebenheit dramatisch erponiren, wie man das
Publicum zum Verständniß bringen und in Spannung erhalten soll, aber es
fehlt ihm noch an einem wirklichen Inhalt. Er kennt die Menschen, er kennt
den sittlichen Ernst der Gesellschaft noch nicht. Leider fällt die Jugend Meißners
in eine Zeit, wo die sogenannte Genialität über Dichter wie Schiller und
Goethe, namentlich über den erstem, weit hinaus gekommen zu sein glaubte.
Möge er jetzt einmal die Schillerschen Dramen nur von dieser Seite betrachten:
eine wie tiefe. Intuition des wirklichen Lebens sich in ihnen offenbart, mit
wie großen Zügen er den sittlichen Inhalt desselben auffaßt. Man hat von
Schiller immer nur einzelne gereimte Stichwörter im Kopf, die uns jetzt trivial
klingen, weil sämmtliche Spatzen deS deutschen Dichterwaldes ihm nachgesungen
haben. Aber man lasse einmal diese wohlklingenden Phrasen beiseite und
gehe auf seinen wirklichen Inhalt ein, und man wird von immer größerer Be¬
wunderung durchdrungen werden. Noch weit mehr ist das bei Goethe der
Fall. Der Grund davon liegt nicht blos in der Genialität dieser beiden
Männer, sondern in dem Ernst und in der Gründlichkeit ihrer Arbeit. Die
heutigen Dichter, die darin Jean Paul ähneln, halten jede Arbeit für ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/416>, abgerufen am 29.12.2024.