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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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nicht mehr entbehrt werden konnte, plötzlich nach Süden umgeschlagen ist, kommen
auch allenthalben, wo sie Boden und Schutz zum Emporkommen finden, Blumen
hervor, und treibe," rasch zur Blüte. Als ich gestern und vorgestern über ver¬
schiedene Kirchhöfe ging, bemerkte ich unter den Cypressen junge Rosen, die
eben im Knospen waren, und des ersten Sonnenkusseö zu harren schienen, um
sich zu entfalten.

,,,
Wenn ich die während meines hiesigen Aufenthaltes gemachten Witterungs¬
erfahrungen überschaue, so muß ich eingestehen, daß die vielgerühmten Klima¬
vorzüge der Lande, am Bosporus nicht so groß sind, als man in der Regel
wol, namentlich auswärts, annimmt; daß der Sommer von Stambul allerdings
heiß genug ist, um mit dem von Neapel und Lissabon in eine Linie gestellt zu
werden, und die Nächte in jener Jahreszeit nicht selten die Schwüle der Tage
nachempfinden lassen; daß aber schön im September, und namentlich zu An¬
fang Octobers, die Wage sich sichtlich nach der andern Seite hinüberneigt.
Ausnahmen wie z. B. der Herbst im heißen Jahre 1831, wo die warme Wit¬
terung bis in den December hinein fortdauerte, kommen vor; aber sie sind sehr
selten und der Fall, wo der Frühling im Januar schon beginnt, der ebenfalls
vorkommt, wurde von mir noch nicht erlebt. Der diesjährige Herbst ist unge¬
wöhnlich früh eingetreten, und nachdem eine Reihe von Stürmen aus Nord
und Süd die Blätter von den Bäumen geschüttelt, strömt nun seit beinahe zwei
Wochen unaufhörlicher Regen darnieder und nur dann und wann lüften sich
die grauen Wolkenvorhänge, um einen Sonnenblick hindurchzulassen. Im en¬
geren Sinne ist die Jahreszeit, in welcher wir nun stehen, der Spätherbst, mit
allem Vorgeschmack vom Winter.

Gleichwie Heine in Paris sich wehmüthig der deutschen Nachtwächter und
des Rolands uuter dem Rathhaus und der veilchenblauen Augen vaterländi¬
scher Mädchen erinnerte, gedenkt ein Deutscher beim Anschlagen des Regens
an die lecken und undichten Fenster Stambuler Wohnungen und beim Sausen
des eisigen Nordwindes, der großen, bunten Kachelofen, in der heimlichsten
Ecke des vaterländischen Gemachs und der, dicken Steinwand des Hauses mit
den tiefen Fensternischen. Wie vieles lassen doch hier Fußboden und Dächer
zu wünschen übrig! Wie fühlt man erst recht in der türkischen Hauptstadt, daß
der Mensch ein sich zwischen Nothwendigkeiten und Bedürfnissen bewegendes
Wesen ist, und es sich in der Zone europäischer Cultur ohne Frage am besten
leben läßt.

Dabei kann man nicht in Abrede stellen, daß Stambul, und insbesondere
Pera, von Jahr zu Jahr Fortschritte macht, in Hinsicht auf äußeren und in¬
neren Comfort. Am schnellsten wußten sich die Moden in Bezug auf den An-


nicht mehr entbehrt werden konnte, plötzlich nach Süden umgeschlagen ist, kommen
auch allenthalben, wo sie Boden und Schutz zum Emporkommen finden, Blumen
hervor, und treibe,» rasch zur Blüte. Als ich gestern und vorgestern über ver¬
schiedene Kirchhöfe ging, bemerkte ich unter den Cypressen junge Rosen, die
eben im Knospen waren, und des ersten Sonnenkusseö zu harren schienen, um
sich zu entfalten.

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Wenn ich die während meines hiesigen Aufenthaltes gemachten Witterungs¬
erfahrungen überschaue, so muß ich eingestehen, daß die vielgerühmten Klima¬
vorzüge der Lande, am Bosporus nicht so groß sind, als man in der Regel
wol, namentlich auswärts, annimmt; daß der Sommer von Stambul allerdings
heiß genug ist, um mit dem von Neapel und Lissabon in eine Linie gestellt zu
werden, und die Nächte in jener Jahreszeit nicht selten die Schwüle der Tage
nachempfinden lassen; daß aber schön im September, und namentlich zu An¬
fang Octobers, die Wage sich sichtlich nach der andern Seite hinüberneigt.
Ausnahmen wie z. B. der Herbst im heißen Jahre 1831, wo die warme Wit¬
terung bis in den December hinein fortdauerte, kommen vor; aber sie sind sehr
selten und der Fall, wo der Frühling im Januar schon beginnt, der ebenfalls
vorkommt, wurde von mir noch nicht erlebt. Der diesjährige Herbst ist unge¬
wöhnlich früh eingetreten, und nachdem eine Reihe von Stürmen aus Nord
und Süd die Blätter von den Bäumen geschüttelt, strömt nun seit beinahe zwei
Wochen unaufhörlicher Regen darnieder und nur dann und wann lüften sich
die grauen Wolkenvorhänge, um einen Sonnenblick hindurchzulassen. Im en¬
geren Sinne ist die Jahreszeit, in welcher wir nun stehen, der Spätherbst, mit
allem Vorgeschmack vom Winter.

Gleichwie Heine in Paris sich wehmüthig der deutschen Nachtwächter und
des Rolands uuter dem Rathhaus und der veilchenblauen Augen vaterländi¬
scher Mädchen erinnerte, gedenkt ein Deutscher beim Anschlagen des Regens
an die lecken und undichten Fenster Stambuler Wohnungen und beim Sausen
des eisigen Nordwindes, der großen, bunten Kachelofen, in der heimlichsten
Ecke des vaterländischen Gemachs und der, dicken Steinwand des Hauses mit
den tiefen Fensternischen. Wie vieles lassen doch hier Fußboden und Dächer
zu wünschen übrig! Wie fühlt man erst recht in der türkischen Hauptstadt, daß
der Mensch ein sich zwischen Nothwendigkeiten und Bedürfnissen bewegendes
Wesen ist, und es sich in der Zone europäischer Cultur ohne Frage am besten
leben läßt.

Dabei kann man nicht in Abrede stellen, daß Stambul, und insbesondere
Pera, von Jahr zu Jahr Fortschritte macht, in Hinsicht auf äußeren und in¬
neren Comfort. Am schnellsten wußten sich die Moden in Bezug auf den An-


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[0383] nicht mehr entbehrt werden konnte, plötzlich nach Süden umgeschlagen ist, kommen auch allenthalben, wo sie Boden und Schutz zum Emporkommen finden, Blumen hervor, und treibe,» rasch zur Blüte. Als ich gestern und vorgestern über ver¬ schiedene Kirchhöfe ging, bemerkte ich unter den Cypressen junge Rosen, die eben im Knospen waren, und des ersten Sonnenkusseö zu harren schienen, um sich zu entfalten. ,,, Wenn ich die während meines hiesigen Aufenthaltes gemachten Witterungs¬ erfahrungen überschaue, so muß ich eingestehen, daß die vielgerühmten Klima¬ vorzüge der Lande, am Bosporus nicht so groß sind, als man in der Regel wol, namentlich auswärts, annimmt; daß der Sommer von Stambul allerdings heiß genug ist, um mit dem von Neapel und Lissabon in eine Linie gestellt zu werden, und die Nächte in jener Jahreszeit nicht selten die Schwüle der Tage nachempfinden lassen; daß aber schön im September, und namentlich zu An¬ fang Octobers, die Wage sich sichtlich nach der andern Seite hinüberneigt. Ausnahmen wie z. B. der Herbst im heißen Jahre 1831, wo die warme Wit¬ terung bis in den December hinein fortdauerte, kommen vor; aber sie sind sehr selten und der Fall, wo der Frühling im Januar schon beginnt, der ebenfalls vorkommt, wurde von mir noch nicht erlebt. Der diesjährige Herbst ist unge¬ wöhnlich früh eingetreten, und nachdem eine Reihe von Stürmen aus Nord und Süd die Blätter von den Bäumen geschüttelt, strömt nun seit beinahe zwei Wochen unaufhörlicher Regen darnieder und nur dann und wann lüften sich die grauen Wolkenvorhänge, um einen Sonnenblick hindurchzulassen. Im en¬ geren Sinne ist die Jahreszeit, in welcher wir nun stehen, der Spätherbst, mit allem Vorgeschmack vom Winter. Gleichwie Heine in Paris sich wehmüthig der deutschen Nachtwächter und des Rolands uuter dem Rathhaus und der veilchenblauen Augen vaterländi¬ scher Mädchen erinnerte, gedenkt ein Deutscher beim Anschlagen des Regens an die lecken und undichten Fenster Stambuler Wohnungen und beim Sausen des eisigen Nordwindes, der großen, bunten Kachelofen, in der heimlichsten Ecke des vaterländischen Gemachs und der, dicken Steinwand des Hauses mit den tiefen Fensternischen. Wie vieles lassen doch hier Fußboden und Dächer zu wünschen übrig! Wie fühlt man erst recht in der türkischen Hauptstadt, daß der Mensch ein sich zwischen Nothwendigkeiten und Bedürfnissen bewegendes Wesen ist, und es sich in der Zone europäischer Cultur ohne Frage am besten leben läßt. Dabei kann man nicht in Abrede stellen, daß Stambul, und insbesondere Pera, von Jahr zu Jahr Fortschritte macht, in Hinsicht auf äußeren und in¬ neren Comfort. Am schnellsten wußten sich die Moden in Bezug auf den An-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/383>, abgerufen am 22.07.2024.