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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Am gefährlichsten ist es, in eine ganz genau bekannte politische Entwicklung, iulder
uns die einzelnen Betheiligten vollständig gegenwärtig sind, poetische Figuren
einzuführen. Wenn es auch nicht grade die Aufgabe des Romans ist, uns den
Schein der Wahrheit zu geben, so muß doch wenigstens alles vermieden werden,
uns auf die Widersprüche gegen die Wahrheit aufmerksam zu machen, und
wenn unser Gedächtniß unsrer Phantasie fortwährend hinderlich in den Weg
tritt, so wird dadurch der unbefangene Eindruck aufgehoben. Möchte überhaupt
die Verfasserin den Dichter, der sie zu diesem Mißgriff verleitet zu haben scheint,
Bulwer, mit einem der neueren vertauschen, z. B. mit Dickens, der ihrer Phan^
laste bei der poetischen Auffassung, bei der Anschauung des Lebens behilflich
sein kann. --


Buch der Kindheit. Von Bogumil Goltz. 2. Auflage. Berlin,
Franz Duncker. --

Dieses Buch, das bei seinem ersten Erscheinen ein so großes Aufsehen
gemacht hat, war uns noch nicht zu Gesicht gekommen. Die Vorrede und die
ersten Capitel machten in.it ihrer gezierten, schwülstigen und incorrecten Sprache
einen höchst unangenehmen Eindruck auf uns und wir waren schon geneigt,
ungeduldig zu werden, als uns das nachfolgende Gespräch zwischen einer Mutter
und ihrem Kinde zu Gesicht kam.

Ach sieh mal, Mama, wie der Lutsche Lu wieder aussieht.

Mutier. Und du, schweige mir ganz still, du bist mir auch der rechte Fähnchen-
sührer, du! "

Louis. Ja, er hat mich mitgenimml und in Zucks gemeißt-

Mutter. Siehst dn. Mnsjechen! das hab ich mir gleich gedacht, erst führst dn den
Jungen in den tiefsten Schmuz und dann kommst du, dich noch wcißzubreuuen, na warte, du
Cujou, laß "ur den Valer zu Hause kommen, dann sollt ihr beide, der eine wie der andre,
was abkriegeu, ich will mich mit euch Rangen gar nicht mehr befassen; ich gräme mich so
schon zu Tode über eure Nichtsnutzigkeit!

Louis. Mama, du wirst sterben?

Mutter. Ja, ich werd sterben, und dann wirst du keine Mutter mehr habe", die dich
des Tags dreimal aus- und anzieht, du Unart du!

Louis. Mama, wann wirst du sterben?

Mutter. Wenn ich nicht länger mehr leben kann.

Lords. Dn lebst aber, Mama.

Mutter. Ja, noch lebe ich, aber wenn du so unartig bleibst und dich in allem Schmuz
herumtreibst, so werd ich mal eines Morgens früh todt sein.

Louis. Mausetodt, Mama?!

Mut ter- Na, nu seh mir einer die kleine Dummheit an ! Komm her, du kleiner Nacaille!
was soll ich mit dir macheu, du bist ja "och ein kleines, ganz dummes Aiehstückche", dn! na,
wirst dus anch nicht mehr thun?

Louis. Nicht mehr thun?

Mutier. Ja, nicht mehr herumtreiben, d" dreihaariger Schlingel du!

Louis. Mama, wie ist das dreihaar -- ?

Mutter. Junge, das ist, wenn man so ein kleiner, unnützer, naseweiser Schelm ist,
wie du! ,


Am gefährlichsten ist es, in eine ganz genau bekannte politische Entwicklung, iulder
uns die einzelnen Betheiligten vollständig gegenwärtig sind, poetische Figuren
einzuführen. Wenn es auch nicht grade die Aufgabe des Romans ist, uns den
Schein der Wahrheit zu geben, so muß doch wenigstens alles vermieden werden,
uns auf die Widersprüche gegen die Wahrheit aufmerksam zu machen, und
wenn unser Gedächtniß unsrer Phantasie fortwährend hinderlich in den Weg
tritt, so wird dadurch der unbefangene Eindruck aufgehoben. Möchte überhaupt
die Verfasserin den Dichter, der sie zu diesem Mißgriff verleitet zu haben scheint,
Bulwer, mit einem der neueren vertauschen, z. B. mit Dickens, der ihrer Phan^
laste bei der poetischen Auffassung, bei der Anschauung des Lebens behilflich
sein kann. —


Buch der Kindheit. Von Bogumil Goltz. 2. Auflage. Berlin,
Franz Duncker. —

Dieses Buch, das bei seinem ersten Erscheinen ein so großes Aufsehen
gemacht hat, war uns noch nicht zu Gesicht gekommen. Die Vorrede und die
ersten Capitel machten in.it ihrer gezierten, schwülstigen und incorrecten Sprache
einen höchst unangenehmen Eindruck auf uns und wir waren schon geneigt,
ungeduldig zu werden, als uns das nachfolgende Gespräch zwischen einer Mutter
und ihrem Kinde zu Gesicht kam.

Ach sieh mal, Mama, wie der Lutsche Lu wieder aussieht.

Mutier. Und du, schweige mir ganz still, du bist mir auch der rechte Fähnchen-
sührer, du! "

Louis. Ja, er hat mich mitgenimml und in Zucks gemeißt-

Mutter. Siehst dn. Mnsjechen! das hab ich mir gleich gedacht, erst führst dn den
Jungen in den tiefsten Schmuz und dann kommst du, dich noch wcißzubreuuen, na warte, du
Cujou, laß »ur den Valer zu Hause kommen, dann sollt ihr beide, der eine wie der andre,
was abkriegeu, ich will mich mit euch Rangen gar nicht mehr befassen; ich gräme mich so
schon zu Tode über eure Nichtsnutzigkeit!

Louis. Mama, du wirst sterben?

Mutter. Ja, ich werd sterben, und dann wirst du keine Mutter mehr habe», die dich
des Tags dreimal aus- und anzieht, du Unart du!

Louis. Mama, wann wirst du sterben?

Mutter. Wenn ich nicht länger mehr leben kann.

Lords. Dn lebst aber, Mama.

Mutter. Ja, noch lebe ich, aber wenn du so unartig bleibst und dich in allem Schmuz
herumtreibst, so werd ich mal eines Morgens früh todt sein.

Louis. Mausetodt, Mama?!

Mut ter- Na, nu seh mir einer die kleine Dummheit an ! Komm her, du kleiner Nacaille!
was soll ich mit dir macheu, du bist ja »och ein kleines, ganz dummes Aiehstückche», dn! na,
wirst dus anch nicht mehr thun?

Louis. Nicht mehr thun?

Mutier. Ja, nicht mehr herumtreiben, d» dreihaariger Schlingel du!

Louis. Mama, wie ist das dreihaar — ?

Mutter. Junge, das ist, wenn man so ein kleiner, unnützer, naseweiser Schelm ist,
wie du! ,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/34>, abgerufen am 29.12.2024.