Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

aneinander vorüberrenncn sehen; keiner bleibt stehen und bewundert des andern
Rock oder des andern Bartschnitt, wie sonst in guten Zeiten; keiner wiegt sich
stolz und selbstbewußt in den langen Schößen eines neuen Paletot, niemand
verweilt mit dem frühern Behagen vor den großen Schaufenstern unsrer
Modisten, wo neben bunten Caschemirs die modernsten Trauerstoffe hangen und
die wächsernen Puppen, trotz allen Flitters und Putzes, mit dem sie angethan
sind, eine so unheimliche Erinnerung wecken. Gehen sie ins Caso, so steckt
ihnen der Marqueur -1000 getödtete Russen mit dem Abendblatt in die Hand;
ein Freund der Alliirten wirft ihnen einige zerstörte Forts nebst 300 Bomben,
Haubizen und anderem Schlußbedarf ins Gesicht; aus einer andern Ecke seufzt
ein Speculant: die Pariser Rente höher gekommen? und wieder aus einer
andern wird Preußen als Großmacht feierlichst herausgeworfen. Das ist nun
freilich öffentliche Meinung und kann für die Physiognomie der höhern Ge¬
sellschaft, der eingeweihten Kreise nicht maßgebend sein. "Indeß auch in den
kleinern Privatcirkeln ist jetzt keine Ruhe und kein Seelencomsort zu finden.
Die Dame vom Hause empfängt Sie zuweilen mit einem schmerzlichen Lächeln,
das auf innere Gemüthszustände weist, die nur durch eine Tasse Kamillenthee
oder durch einen der neu erfundenen "eeinwres as santo" beschwichtigt werden
können; Papa kauert tiefsinnig in der Sophaecke und lauscht gewissen Tönen,
die nicht vom Pianoforte, nicht aus dem Salon, nicht aus einem Nebenzimmer,
auch nicht von einer andern Person herrühren, sondern melodramatisch aus
des Körpers eignem Innern hörbar werden, ein geisterhaftes Kollern und
Räuspern. Und dort sitzt- ein junger Mann, bleich und angegriffen, die Blicke
stets der Thür zugewandt, als wollte er jeden Augenblick den schleunigsten
Rückzug gesichert haben, seine Hand ruht in der Hand seiner Braut, aber
sein Geist ist anderwärts. Und auch die sämmtlichen PepiS und Reddis und
Kalis und Tonis, welche die Anlichambres bevölkern, nicht minder die Heiminen,
Aurelien, Sigismunde, Cäsaren und Thusnelden, welche den auf-und ab¬
laufenden Stammbaum der Familie bilden. Alle befinden sich in so zerrütteter
Stimmung, daß ein Hausfreund allen moralischen Muth zusammenfassen muß,
um dem allgemeinen Paria unversehrt entgehen zu können.

Kein Wunder, daß bei solchen Zuständen der Gesellschaft alle höheren In¬
teressen schweigen, daß der Doctor allein den Salon und die Boudoirs beherrscht,
daß.!Heines Selbstbiographie von Dowerschen Pulverchen überstreut auf dem
Tische liegt und George Sands Memoiren hin und wieder von einem sanften
Lindenblütenthee Übergossen werden. Höchstens sucht man sich durch donnernde
Kriegsnachrichten zu übertäuben, man möchte dem heimtückischen Tode otra
murvs entrinnen und sich lieber dem Menschikoff mit seinen. Langröcken und
Langbärten entgegenstürzen, wenigstens auf den Parallelen der Zeitungs¬
spalten. Wetten auf die Einnahme von Sebastopol werden zu hohen Einsalzen


aneinander vorüberrenncn sehen; keiner bleibt stehen und bewundert des andern
Rock oder des andern Bartschnitt, wie sonst in guten Zeiten; keiner wiegt sich
stolz und selbstbewußt in den langen Schößen eines neuen Paletot, niemand
verweilt mit dem frühern Behagen vor den großen Schaufenstern unsrer
Modisten, wo neben bunten Caschemirs die modernsten Trauerstoffe hangen und
die wächsernen Puppen, trotz allen Flitters und Putzes, mit dem sie angethan
sind, eine so unheimliche Erinnerung wecken. Gehen sie ins Caso, so steckt
ihnen der Marqueur -1000 getödtete Russen mit dem Abendblatt in die Hand;
ein Freund der Alliirten wirft ihnen einige zerstörte Forts nebst 300 Bomben,
Haubizen und anderem Schlußbedarf ins Gesicht; aus einer andern Ecke seufzt
ein Speculant: die Pariser Rente höher gekommen? und wieder aus einer
andern wird Preußen als Großmacht feierlichst herausgeworfen. Das ist nun
freilich öffentliche Meinung und kann für die Physiognomie der höhern Ge¬
sellschaft, der eingeweihten Kreise nicht maßgebend sein. «Indeß auch in den
kleinern Privatcirkeln ist jetzt keine Ruhe und kein Seelencomsort zu finden.
Die Dame vom Hause empfängt Sie zuweilen mit einem schmerzlichen Lächeln,
das auf innere Gemüthszustände weist, die nur durch eine Tasse Kamillenthee
oder durch einen der neu erfundenen „eeinwres as santo" beschwichtigt werden
können; Papa kauert tiefsinnig in der Sophaecke und lauscht gewissen Tönen,
die nicht vom Pianoforte, nicht aus dem Salon, nicht aus einem Nebenzimmer,
auch nicht von einer andern Person herrühren, sondern melodramatisch aus
des Körpers eignem Innern hörbar werden, ein geisterhaftes Kollern und
Räuspern. Und dort sitzt- ein junger Mann, bleich und angegriffen, die Blicke
stets der Thür zugewandt, als wollte er jeden Augenblick den schleunigsten
Rückzug gesichert haben, seine Hand ruht in der Hand seiner Braut, aber
sein Geist ist anderwärts. Und auch die sämmtlichen PepiS und Reddis und
Kalis und Tonis, welche die Anlichambres bevölkern, nicht minder die Heiminen,
Aurelien, Sigismunde, Cäsaren und Thusnelden, welche den auf-und ab¬
laufenden Stammbaum der Familie bilden. Alle befinden sich in so zerrütteter
Stimmung, daß ein Hausfreund allen moralischen Muth zusammenfassen muß,
um dem allgemeinen Paria unversehrt entgehen zu können.

Kein Wunder, daß bei solchen Zuständen der Gesellschaft alle höheren In¬
teressen schweigen, daß der Doctor allein den Salon und die Boudoirs beherrscht,
daß.!Heines Selbstbiographie von Dowerschen Pulverchen überstreut auf dem
Tische liegt und George Sands Memoiren hin und wieder von einem sanften
Lindenblütenthee Übergossen werden. Höchstens sucht man sich durch donnernde
Kriegsnachrichten zu übertäuben, man möchte dem heimtückischen Tode otra
murvs entrinnen und sich lieber dem Menschikoff mit seinen. Langröcken und
Langbärten entgegenstürzen, wenigstens auf den Parallelen der Zeitungs¬
spalten. Wetten auf die Einnahme von Sebastopol werden zu hohen Einsalzen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0311" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/98625"/>
          <p xml:id="ID_1004" prev="#ID_1003"> aneinander vorüberrenncn sehen; keiner bleibt stehen und bewundert des andern<lb/>
Rock oder des andern Bartschnitt, wie sonst in guten Zeiten; keiner wiegt sich<lb/>
stolz und selbstbewußt in den langen Schößen eines neuen Paletot, niemand<lb/>
verweilt mit dem frühern Behagen vor den großen Schaufenstern unsrer<lb/>
Modisten, wo neben bunten Caschemirs die modernsten Trauerstoffe hangen und<lb/>
die wächsernen Puppen, trotz allen Flitters und Putzes, mit dem sie angethan<lb/>
sind, eine so unheimliche Erinnerung wecken. Gehen sie ins Caso, so steckt<lb/>
ihnen der Marqueur -1000 getödtete Russen mit dem Abendblatt in die Hand;<lb/>
ein Freund der Alliirten wirft ihnen einige zerstörte Forts nebst 300 Bomben,<lb/>
Haubizen und anderem Schlußbedarf ins Gesicht; aus einer andern Ecke seufzt<lb/>
ein Speculant: die Pariser Rente höher gekommen? und wieder aus einer<lb/>
andern wird Preußen als Großmacht feierlichst herausgeworfen. Das ist nun<lb/>
freilich öffentliche Meinung und kann für die Physiognomie der höhern Ge¬<lb/>
sellschaft, der eingeweihten Kreise nicht maßgebend sein. «Indeß auch in den<lb/>
kleinern Privatcirkeln ist jetzt keine Ruhe und kein Seelencomsort zu finden.<lb/>
Die Dame vom Hause empfängt Sie zuweilen mit einem schmerzlichen Lächeln,<lb/>
das auf innere Gemüthszustände weist, die nur durch eine Tasse Kamillenthee<lb/>
oder durch einen der neu erfundenen &#x201E;eeinwres as santo" beschwichtigt werden<lb/>
können; Papa kauert tiefsinnig in der Sophaecke und lauscht gewissen Tönen,<lb/>
die nicht vom Pianoforte, nicht aus dem Salon, nicht aus einem Nebenzimmer,<lb/>
auch nicht von einer andern Person herrühren, sondern melodramatisch aus<lb/>
des Körpers eignem Innern hörbar werden, ein geisterhaftes Kollern und<lb/>
Räuspern. Und dort sitzt- ein junger Mann, bleich und angegriffen, die Blicke<lb/>
stets der Thür zugewandt, als wollte er jeden Augenblick den schleunigsten<lb/>
Rückzug gesichert haben, seine Hand ruht in der Hand seiner Braut, aber<lb/>
sein Geist ist anderwärts. Und auch die sämmtlichen PepiS und Reddis und<lb/>
Kalis und Tonis, welche die Anlichambres bevölkern, nicht minder die Heiminen,<lb/>
Aurelien, Sigismunde, Cäsaren und Thusnelden, welche den auf-und ab¬<lb/>
laufenden Stammbaum der Familie bilden. Alle befinden sich in so zerrütteter<lb/>
Stimmung, daß ein Hausfreund allen moralischen Muth zusammenfassen muß,<lb/>
um dem allgemeinen Paria unversehrt entgehen zu können.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1005" next="#ID_1006"> Kein Wunder, daß bei solchen Zuständen der Gesellschaft alle höheren In¬<lb/>
teressen schweigen, daß der Doctor allein den Salon und die Boudoirs beherrscht,<lb/>
daß.!Heines Selbstbiographie von Dowerschen Pulverchen überstreut auf dem<lb/>
Tische liegt und George Sands Memoiren hin und wieder von einem sanften<lb/>
Lindenblütenthee Übergossen werden. Höchstens sucht man sich durch donnernde<lb/>
Kriegsnachrichten zu übertäuben, man möchte dem heimtückischen Tode otra<lb/>
murvs entrinnen und sich lieber dem Menschikoff mit seinen. Langröcken und<lb/>
Langbärten entgegenstürzen, wenigstens auf den Parallelen der Zeitungs¬<lb/>
spalten.  Wetten auf die Einnahme von Sebastopol werden zu hohen Einsalzen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0311] aneinander vorüberrenncn sehen; keiner bleibt stehen und bewundert des andern Rock oder des andern Bartschnitt, wie sonst in guten Zeiten; keiner wiegt sich stolz und selbstbewußt in den langen Schößen eines neuen Paletot, niemand verweilt mit dem frühern Behagen vor den großen Schaufenstern unsrer Modisten, wo neben bunten Caschemirs die modernsten Trauerstoffe hangen und die wächsernen Puppen, trotz allen Flitters und Putzes, mit dem sie angethan sind, eine so unheimliche Erinnerung wecken. Gehen sie ins Caso, so steckt ihnen der Marqueur -1000 getödtete Russen mit dem Abendblatt in die Hand; ein Freund der Alliirten wirft ihnen einige zerstörte Forts nebst 300 Bomben, Haubizen und anderem Schlußbedarf ins Gesicht; aus einer andern Ecke seufzt ein Speculant: die Pariser Rente höher gekommen? und wieder aus einer andern wird Preußen als Großmacht feierlichst herausgeworfen. Das ist nun freilich öffentliche Meinung und kann für die Physiognomie der höhern Ge¬ sellschaft, der eingeweihten Kreise nicht maßgebend sein. «Indeß auch in den kleinern Privatcirkeln ist jetzt keine Ruhe und kein Seelencomsort zu finden. Die Dame vom Hause empfängt Sie zuweilen mit einem schmerzlichen Lächeln, das auf innere Gemüthszustände weist, die nur durch eine Tasse Kamillenthee oder durch einen der neu erfundenen „eeinwres as santo" beschwichtigt werden können; Papa kauert tiefsinnig in der Sophaecke und lauscht gewissen Tönen, die nicht vom Pianoforte, nicht aus dem Salon, nicht aus einem Nebenzimmer, auch nicht von einer andern Person herrühren, sondern melodramatisch aus des Körpers eignem Innern hörbar werden, ein geisterhaftes Kollern und Räuspern. Und dort sitzt- ein junger Mann, bleich und angegriffen, die Blicke stets der Thür zugewandt, als wollte er jeden Augenblick den schleunigsten Rückzug gesichert haben, seine Hand ruht in der Hand seiner Braut, aber sein Geist ist anderwärts. Und auch die sämmtlichen PepiS und Reddis und Kalis und Tonis, welche die Anlichambres bevölkern, nicht minder die Heiminen, Aurelien, Sigismunde, Cäsaren und Thusnelden, welche den auf-und ab¬ laufenden Stammbaum der Familie bilden. Alle befinden sich in so zerrütteter Stimmung, daß ein Hausfreund allen moralischen Muth zusammenfassen muß, um dem allgemeinen Paria unversehrt entgehen zu können. Kein Wunder, daß bei solchen Zuständen der Gesellschaft alle höheren In¬ teressen schweigen, daß der Doctor allein den Salon und die Boudoirs beherrscht, daß.!Heines Selbstbiographie von Dowerschen Pulverchen überstreut auf dem Tische liegt und George Sands Memoiren hin und wieder von einem sanften Lindenblütenthee Übergossen werden. Höchstens sucht man sich durch donnernde Kriegsnachrichten zu übertäuben, man möchte dem heimtückischen Tode otra murvs entrinnen und sich lieber dem Menschikoff mit seinen. Langröcken und Langbärten entgegenstürzen, wenigstens auf den Parallelen der Zeitungs¬ spalten. Wetten auf die Einnahme von Sebastopol werden zu hohen Einsalzen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/311
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/311>, abgerufen am 29.12.2024.