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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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allen seinen Schichten von den Liedern für die Schuljugend bis zu den vier¬
stimmigen Chören für Männer; d.le von ihm angestrebte Reformation des
Kirchengesangs umfaßte beide Confessionen; so bearbeitete er nicht nur sein
beliebtes Züricher Kirchengesangbuch, sondern auch die Kirchengesänge für das
Bisthum Konstanz, Mit Recht nennen ihn daher die schweizerischen Sänger¬
vereine ihren Vater auf dem Denksteine, den sie ihm im Jahre I8i8 in Zürich
setzten. Durch ihn wurde der schweizerische vierstimmige Männerchor gegründet,
und seinem begeisterten Wirken verdankt es der Gesangunterricht, daß er seit
der Regeneration des Volksschulwesenö in den dreißiger Jahren überall unter
die Gegenstände des Primarunterrichts aufgenommen wurde.

Die Saat, die Naegeli ausstreute, ist seither zu einem mächtigen Aehren-
felde herangereift, und so war es natürlich, daß die vielen tausend Sänger
in. allen Theilen der deutschen Schweiz das Bedürfniß fühlten, sich zu ver¬
einigen. Diese Vereinigung geschal) stufenweise, wie das Bedürfniß und die
Lust an größeren Gesangausführungen wuchs; die Localvereine traten zusammen
i" Bezirkverciue, diese sammelten allmälig ihre Kräfte in Cantonalveteinen, und
endlich trat als letztes, alle Vereine in sich ausnehmendes Ganzes der eid¬
genössische Säugerverein hinzu. Es gibt gegenwärtig keinen Canton in der
deutschen Schweiz, der nicht seine Gesangvereine hat, in den meisten ist die
Gliederung, die wir genannt, durchgeführt, in keinem aber vollständiger und
ineinandergreifender als im Canton Bern. So ist jeder Sommer reich an
Gesangfesten: bald hält ein Bezirk sein Bezirkgesangfcst, und die umliegende"
Bezirke schicken ihre Abgeordneten, oder ein Canton feiert sein Cantonal-
sängcrfest, zu dem die Sänger der angrenzenden Cantone geladen werden. Dahin
zieht man dann nicht im reichgepolsterten Zweispänner, sondern auf langen
Leiterwagen, verziert mit Mooskräuzen und flatternden Bändern, halten die
Säuger ihren Einzug, und es ist kein Dörflein so klein, eine Fahne wenigstens
muß darin sein; an einem solchen Tage wird sie entfaltet, und verschönert
dann natürlich durch ihr lustiges Flattern um ein Merkliches die Schönheit
des Tages.

Winterthur hatte es unternommen, dieses Jahr die eidgenössischen Sänger
zu versammeln, Winterthur, die freundliche, gewerbreiche Stadt, von der man
in der ganzen Schweiz mit respectvoller Miene erzählt, sie besitze das größte
Communalvermögen und vertheile jedem ihrer Bürger jährlich soviel an "Bürger¬
genuß", daß, wenn er es nicht zu hoch treibe, er süglich davon leben könne.
Wenn auch ersteres wahr, so wird man in letzteres einen wohlbegründeten
Zweifel setzen beim Anblicke der vielen Fabrikgebäude Winterthurs; Leute,
die solche Häuser bauen und bevölkern, leben nicht von "Bürgergenuß".

Winterthur gehört nicht zu den "Hauptstädten", die bis jetzt allein die
Ehre in Anspruch genommen hatten, die eidgenössischen Sänger in ihre Mauern


allen seinen Schichten von den Liedern für die Schuljugend bis zu den vier¬
stimmigen Chören für Männer; d.le von ihm angestrebte Reformation des
Kirchengesangs umfaßte beide Confessionen; so bearbeitete er nicht nur sein
beliebtes Züricher Kirchengesangbuch, sondern auch die Kirchengesänge für das
Bisthum Konstanz, Mit Recht nennen ihn daher die schweizerischen Sänger¬
vereine ihren Vater auf dem Denksteine, den sie ihm im Jahre I8i8 in Zürich
setzten. Durch ihn wurde der schweizerische vierstimmige Männerchor gegründet,
und seinem begeisterten Wirken verdankt es der Gesangunterricht, daß er seit
der Regeneration des Volksschulwesenö in den dreißiger Jahren überall unter
die Gegenstände des Primarunterrichts aufgenommen wurde.

Die Saat, die Naegeli ausstreute, ist seither zu einem mächtigen Aehren-
felde herangereift, und so war es natürlich, daß die vielen tausend Sänger
in. allen Theilen der deutschen Schweiz das Bedürfniß fühlten, sich zu ver¬
einigen. Diese Vereinigung geschal) stufenweise, wie das Bedürfniß und die
Lust an größeren Gesangausführungen wuchs; die Localvereine traten zusammen
i» Bezirkverciue, diese sammelten allmälig ihre Kräfte in Cantonalveteinen, und
endlich trat als letztes, alle Vereine in sich ausnehmendes Ganzes der eid¬
genössische Säugerverein hinzu. Es gibt gegenwärtig keinen Canton in der
deutschen Schweiz, der nicht seine Gesangvereine hat, in den meisten ist die
Gliederung, die wir genannt, durchgeführt, in keinem aber vollständiger und
ineinandergreifender als im Canton Bern. So ist jeder Sommer reich an
Gesangfesten: bald hält ein Bezirk sein Bezirkgesangfcst, und die umliegende»
Bezirke schicken ihre Abgeordneten, oder ein Canton feiert sein Cantonal-
sängcrfest, zu dem die Sänger der angrenzenden Cantone geladen werden. Dahin
zieht man dann nicht im reichgepolsterten Zweispänner, sondern auf langen
Leiterwagen, verziert mit Mooskräuzen und flatternden Bändern, halten die
Säuger ihren Einzug, und es ist kein Dörflein so klein, eine Fahne wenigstens
muß darin sein; an einem solchen Tage wird sie entfaltet, und verschönert
dann natürlich durch ihr lustiges Flattern um ein Merkliches die Schönheit
des Tages.

Winterthur hatte es unternommen, dieses Jahr die eidgenössischen Sänger
zu versammeln, Winterthur, die freundliche, gewerbreiche Stadt, von der man
in der ganzen Schweiz mit respectvoller Miene erzählt, sie besitze das größte
Communalvermögen und vertheile jedem ihrer Bürger jährlich soviel an „Bürger¬
genuß", daß, wenn er es nicht zu hoch treibe, er süglich davon leben könne.
Wenn auch ersteres wahr, so wird man in letzteres einen wohlbegründeten
Zweifel setzen beim Anblicke der vielen Fabrikgebäude Winterthurs; Leute,
die solche Häuser bauen und bevölkern, leben nicht von „Bürgergenuß".

Winterthur gehört nicht zu den „Hauptstädten", die bis jetzt allein die
Ehre in Anspruch genommen hatten, die eidgenössischen Sänger in ihre Mauern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/20>, abgerufen am 22.07.2024.