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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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und dem zu Liebe Carl Müllenhoff von seinem sehnlich erwarteten Handbuch
der Alterthumskunde abbrach, um es mit dem feinsinnigsten und interessantesten
Anhange zu versehen, der jemals einem Buche von späterer Hand hinzugefügt
ist, ein solches Buch bedarf der Empfehlung nicht mehr. Dennoch mögen
jemandem noch einige anerkennende Worte darüber gestattet sein, der Tag für
Tag Veranlassung hat, in dem Dialekt zu reden, mit dem es sich beschäftigt,
und denselben Studien nachgeht, die'offenbar auch beiden Herausgebern des
Quickborn wohlbekannt sind. Wie die junge ungarische Literatur, die wir
vor einigen Jahren plötzlich aufschießen sahen, die nationale Beschränkung, welche
sie charakterisirte und durch die sie damals eine gewisse politische Bedeutung er¬
langte, nur durch genaues Eingehen auf die Volksweisen und die Sagen der
Ungarn erlangte, so sehen wir jetzt in Claus Groth einen Dichter vor uns
hintreten, der, offenbar durchdrungen von einer tiefern deutschen Bildung, sich
mit bewußter Beschränkung in Deutschland ein kleineres Gebiet abgesteckt und
dort seine Studien gemacht hat und mit einer Dichtung hervorgetreten ist,
welche uns in ihrer Art an jene ungarischen Dichter Arany, Petöfy u. f. w.
erinnert hat. Was aber den Quickborn als Dialektdichtung anlangt, so braucht
er seine Berechtigung nicht erst nachzuweisen. Viele tausende unsrer Lands¬
leute reden nicht allein diesen Dialekt, sondern, was noch ungleich mehr sagen
will, ihr ganzes Denken modificirt sich nach ihm. Grammatik und Wörter¬
buch können uns keineswegs vollständigen Aufschluß über ihn geben. Die nieder¬
deutsche Sprache verlangt, wie vielleicht jeder andere unverdorbene Dialekt als
solcher, noch eine völlige Naivetät im Denken und Empfinden; sie ist nicht für
den, der sich nicht ganz concret ausdrücken kann, und in einem plattdeutschen
Gedichte wird jeder falsche und unechte Ton, würde er noch so leise angeschlagen,
unglaublich scharf empfunden. Hoch steht der Dichter des Quickboru, der uns
den niederdeutschen Volkscharakter in seiner Sprache wahrhaft wiederspiegelt,
über den Bornemanns, die noch jetzt'neu aufgelegt werden und die wol
schwerlich eine Ahnung davon hatten, wie weh uns jetzt ihr gedankenloses
plattdeutsches Wortgeklingel thut.

So herrlich tönt unsrem Claus Groth keine Musik, singt ihm keine Nach¬
tigall wie seine "Modersprak"; die hellen Zähren laufen ihm, wie er sagt, bei
ihrem Klänge von den Backen. Aber die "Modersprak" erweist sich ihm auch
dankbar für seine Treue. Gedichte wie "der Fischer" (Schön Anna, knüttst
Du fiere Strümp) gehören zu den plastischsten und schönsten lyrischen Ge¬
dichten, welche die deutsche Literatur auszuweisen hat. Wer wird ohne tiefe
Rührung das Gedicht an ein Mädchen lesen, das der Dichter, unter Thränen
lächelnd, scherzhaft "Tös mal" überschreibt und worin ihm, beiläufig bemerkt,
eins der alterthümlichsten und merkwürdigsten Wörter seiner Muttersprache in
den Mund kommt, dem man schon mit besonderer Sorgfalt in dem ältesten


Grenzboten. IV. >8si. Z2

und dem zu Liebe Carl Müllenhoff von seinem sehnlich erwarteten Handbuch
der Alterthumskunde abbrach, um es mit dem feinsinnigsten und interessantesten
Anhange zu versehen, der jemals einem Buche von späterer Hand hinzugefügt
ist, ein solches Buch bedarf der Empfehlung nicht mehr. Dennoch mögen
jemandem noch einige anerkennende Worte darüber gestattet sein, der Tag für
Tag Veranlassung hat, in dem Dialekt zu reden, mit dem es sich beschäftigt,
und denselben Studien nachgeht, die'offenbar auch beiden Herausgebern des
Quickborn wohlbekannt sind. Wie die junge ungarische Literatur, die wir
vor einigen Jahren plötzlich aufschießen sahen, die nationale Beschränkung, welche
sie charakterisirte und durch die sie damals eine gewisse politische Bedeutung er¬
langte, nur durch genaues Eingehen auf die Volksweisen und die Sagen der
Ungarn erlangte, so sehen wir jetzt in Claus Groth einen Dichter vor uns
hintreten, der, offenbar durchdrungen von einer tiefern deutschen Bildung, sich
mit bewußter Beschränkung in Deutschland ein kleineres Gebiet abgesteckt und
dort seine Studien gemacht hat und mit einer Dichtung hervorgetreten ist,
welche uns in ihrer Art an jene ungarischen Dichter Arany, Petöfy u. f. w.
erinnert hat. Was aber den Quickborn als Dialektdichtung anlangt, so braucht
er seine Berechtigung nicht erst nachzuweisen. Viele tausende unsrer Lands¬
leute reden nicht allein diesen Dialekt, sondern, was noch ungleich mehr sagen
will, ihr ganzes Denken modificirt sich nach ihm. Grammatik und Wörter¬
buch können uns keineswegs vollständigen Aufschluß über ihn geben. Die nieder¬
deutsche Sprache verlangt, wie vielleicht jeder andere unverdorbene Dialekt als
solcher, noch eine völlige Naivetät im Denken und Empfinden; sie ist nicht für
den, der sich nicht ganz concret ausdrücken kann, und in einem plattdeutschen
Gedichte wird jeder falsche und unechte Ton, würde er noch so leise angeschlagen,
unglaublich scharf empfunden. Hoch steht der Dichter des Quickboru, der uns
den niederdeutschen Volkscharakter in seiner Sprache wahrhaft wiederspiegelt,
über den Bornemanns, die noch jetzt'neu aufgelegt werden und die wol
schwerlich eine Ahnung davon hatten, wie weh uns jetzt ihr gedankenloses
plattdeutsches Wortgeklingel thut.

So herrlich tönt unsrem Claus Groth keine Musik, singt ihm keine Nach¬
tigall wie seine „Modersprak"; die hellen Zähren laufen ihm, wie er sagt, bei
ihrem Klänge von den Backen. Aber die „Modersprak" erweist sich ihm auch
dankbar für seine Treue. Gedichte wie „der Fischer" (Schön Anna, knüttst
Du fiere Strümp) gehören zu den plastischsten und schönsten lyrischen Ge¬
dichten, welche die deutsche Literatur auszuweisen hat. Wer wird ohne tiefe
Rührung das Gedicht an ein Mädchen lesen, das der Dichter, unter Thränen
lächelnd, scherzhaft „Tös mal" überschreibt und worin ihm, beiläufig bemerkt,
eins der alterthümlichsten und merkwürdigsten Wörter seiner Muttersprache in
den Mund kommt, dem man schon mit besonderer Sorgfalt in dem ältesten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/177>, abgerufen am 22.07.2024.