Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.und in öffentlichen Localen gibt fich der Eindruck großer Ereignisse nur gelegentlich Im fashionablen Westend waren vermuthlich sämmtliche Portiere und Haus¬ Dieser unbequeme Gast scheint endlich abzuziehen. Das plebejische Futter hat und in öffentlichen Localen gibt fich der Eindruck großer Ereignisse nur gelegentlich Im fashionablen Westend waren vermuthlich sämmtliche Portiere und Haus¬ Dieser unbequeme Gast scheint endlich abzuziehen. Das plebejische Futter hat <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0126" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/98440"/> <p xml:id="ID_367" prev="#ID_366"> und in öffentlichen Localen gibt fich der Eindruck großer Ereignisse nur gelegentlich<lb/> kund, wie etwa am vorigen Sonnabend nach zehn Uhr Nachts, als der Lord Mayor,<lb/> einer alten Sitte getreu die "Siegesbotschaft von den Ste'intreppen der Börse ver¬<lb/> kündete. Ein Trompeter stieß vor der Ankündigung ins Horn, sonst hätte der Lord<lb/> Mayor lange auf der Börsentreppe stehen können, ohne daß ihn jemand beachtet<lb/> hätte, als etwa der wachthabende Pvliceman, dem der nächtliche Börscugast als ver¬<lb/> dächtig aufgefallen wäre. — Verlesung einer Siegesbotschaft auf offener Straße —<lb/> mit Trompetenouverture — von der obersten Magistratsperson--— klingt das<lb/> nicht mittelalterlich, reichsstädtisch, spießbürgerlich, nürnbergisch? Allerdings; aber<lb/> daß nach -10 Uhr Abends, in der City, dem stillsten Stadttheil Londons bei Nacht,<lb/> beim ersten Trompetenstoß fich doch gleich an 300 Menschen um den Trompetenton<lb/> angesammelt haben, das ist wieder mehr als Nürnberg leisten könnte. Da gabs<lb/> Aufregung und Vivats für die Königin und den Kaiser Napoleon. Aber bei<lb/> Tage wäre dergleichen gefährlich. Man riskirt ohnedies schon Hals und Beine,<lb/> wenn man dem Wagcngcdrängc vor Börse und Bank entschlüpfen will. Extra-<lb/> spcctakel würde sich die Eitymcuscbhcit ihrer eignen Sicherheit wegen-verbitten.</p><lb/> <p xml:id="ID_368"> Im fashionablen Westend waren vermuthlich sämmtliche Portiere und Haus¬<lb/> hunde im Stadium viertägiger Begeisterung. Sie machen jetzt dessen Bevölkerung<lb/> aus. Die Clubs sind gleichfalls verödet, und die militärischen zumal sind leer wie<lb/> die Kasernen. Da und dort an einem vorspringenden Eckfenster sieht man wol<lb/> noch zwei Veteranen sitzen, mit großen Zeitungsblättcrn und noch größern Special-<lb/> kartcn der Krim vor sich, hagere Herren mit schneeweißen Cravatcn und Backen,<lb/> harten, denen vor Jahren einmal ein Bein oder Arm zufMg abhanden gekommen<lb/> ist, und die jetzt bemüht sind, den Bewegungen ihrer jüngeren Kameraden-aus der<lb/> Landkarte zu folgen. Sonst ists stille in den prachtvollen Clubsalons wie in ver¬<lb/> fallenen Klvstergängcn. Die Jungen sind aus der See, im Norden, im Süd.en,<lb/> vor Sebastvpvl oder in den Hochlanden um Grouse zu schießen. Was vielleicht Lust<lb/> gehabt hätte zu bleibe»/ hat die Cholera verscheucht.</p><lb/> <p xml:id="ID_369" next="#ID_370"> Dieser unbequeme Gast scheint endlich abzuziehen. Das plebejische Futter hat<lb/> er satt. Man verdaut nicht auf die Länge der Zeit 1200 Tischler und Goldlackirer<lb/> wöchentlich, selbst wenn man einen Magen wie Frau Cholera hat. Sie war lange<lb/> unentschlossen, wohin sie sich wenden sollte. Der russische Gesandte ist leider nicht<lb/> in London anwesend, um ihr den Paß nach der Heimat zu visiren. So muß sie<lb/> sich denn paßlos, bei Nacht und Nebel, wieder znrückschlcicheu wohin sie gehört.<lb/> Die vielverbreitete Behauptung, daß sie einem kürzlich aufgewühlten alten Pest-<lb/> kirchhofe entstiegen sei, hat sich übrigens als unstatthaft erwiesen. Dieser von<lb/> Macaulay erwähnte Kirchhof liegt uuter den Häuser'n von Little Malborough Street<lb/> ruhig begraben, und in dieser Straße kam kein Cholerasall vor. Es sei dies blos<lb/> als Gegengift gegen die Bemühungen einzelner Aerzte erwähnt, welche.das Auftreten<lb/> der Seuche überall aus Localursachen ableiten wollen. In einzelnen Stadtvierteln<lb/> gibts übrigens noch Cholcrafälle genug, um ein kleines Königreich damit zu speisen.<lb/> Die Spitäler sind ebenfalls voll. Es wird viel experimentirt. Die Patienten<lb/> sterben und genesen an den entgegengesetztesten Cnrmcthvdcn, und die paar tausend<lb/> Menschen, die in den letzten Wochen hier gestorben sind, haben nicht einmal die<lb/> Befriedigung mit ins Grab genommen, die Wissenschaft.um einen einzigen halt-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0126]
und in öffentlichen Localen gibt fich der Eindruck großer Ereignisse nur gelegentlich
kund, wie etwa am vorigen Sonnabend nach zehn Uhr Nachts, als der Lord Mayor,
einer alten Sitte getreu die "Siegesbotschaft von den Ste'intreppen der Börse ver¬
kündete. Ein Trompeter stieß vor der Ankündigung ins Horn, sonst hätte der Lord
Mayor lange auf der Börsentreppe stehen können, ohne daß ihn jemand beachtet
hätte, als etwa der wachthabende Pvliceman, dem der nächtliche Börscugast als ver¬
dächtig aufgefallen wäre. — Verlesung einer Siegesbotschaft auf offener Straße —
mit Trompetenouverture — von der obersten Magistratsperson--— klingt das
nicht mittelalterlich, reichsstädtisch, spießbürgerlich, nürnbergisch? Allerdings; aber
daß nach -10 Uhr Abends, in der City, dem stillsten Stadttheil Londons bei Nacht,
beim ersten Trompetenstoß fich doch gleich an 300 Menschen um den Trompetenton
angesammelt haben, das ist wieder mehr als Nürnberg leisten könnte. Da gabs
Aufregung und Vivats für die Königin und den Kaiser Napoleon. Aber bei
Tage wäre dergleichen gefährlich. Man riskirt ohnedies schon Hals und Beine,
wenn man dem Wagcngcdrängc vor Börse und Bank entschlüpfen will. Extra-
spcctakel würde sich die Eitymcuscbhcit ihrer eignen Sicherheit wegen-verbitten.
Im fashionablen Westend waren vermuthlich sämmtliche Portiere und Haus¬
hunde im Stadium viertägiger Begeisterung. Sie machen jetzt dessen Bevölkerung
aus. Die Clubs sind gleichfalls verödet, und die militärischen zumal sind leer wie
die Kasernen. Da und dort an einem vorspringenden Eckfenster sieht man wol
noch zwei Veteranen sitzen, mit großen Zeitungsblättcrn und noch größern Special-
kartcn der Krim vor sich, hagere Herren mit schneeweißen Cravatcn und Backen,
harten, denen vor Jahren einmal ein Bein oder Arm zufMg abhanden gekommen
ist, und die jetzt bemüht sind, den Bewegungen ihrer jüngeren Kameraden-aus der
Landkarte zu folgen. Sonst ists stille in den prachtvollen Clubsalons wie in ver¬
fallenen Klvstergängcn. Die Jungen sind aus der See, im Norden, im Süd.en,
vor Sebastvpvl oder in den Hochlanden um Grouse zu schießen. Was vielleicht Lust
gehabt hätte zu bleibe»/ hat die Cholera verscheucht.
Dieser unbequeme Gast scheint endlich abzuziehen. Das plebejische Futter hat
er satt. Man verdaut nicht auf die Länge der Zeit 1200 Tischler und Goldlackirer
wöchentlich, selbst wenn man einen Magen wie Frau Cholera hat. Sie war lange
unentschlossen, wohin sie sich wenden sollte. Der russische Gesandte ist leider nicht
in London anwesend, um ihr den Paß nach der Heimat zu visiren. So muß sie
sich denn paßlos, bei Nacht und Nebel, wieder znrückschlcicheu wohin sie gehört.
Die vielverbreitete Behauptung, daß sie einem kürzlich aufgewühlten alten Pest-
kirchhofe entstiegen sei, hat sich übrigens als unstatthaft erwiesen. Dieser von
Macaulay erwähnte Kirchhof liegt uuter den Häuser'n von Little Malborough Street
ruhig begraben, und in dieser Straße kam kein Cholerasall vor. Es sei dies blos
als Gegengift gegen die Bemühungen einzelner Aerzte erwähnt, welche.das Auftreten
der Seuche überall aus Localursachen ableiten wollen. In einzelnen Stadtvierteln
gibts übrigens noch Cholcrafälle genug, um ein kleines Königreich damit zu speisen.
Die Spitäler sind ebenfalls voll. Es wird viel experimentirt. Die Patienten
sterben und genesen an den entgegengesetztesten Cnrmcthvdcn, und die paar tausend
Menschen, die in den letzten Wochen hier gestorben sind, haben nicht einmal die
Befriedigung mit ins Grab genommen, die Wissenschaft.um einen einzigen halt-
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