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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Gefühl und die klare Einsicht von dem habe, was seine Leistung an jeder
Stelle für sich und für das Ganze bedeute. Erst dann wird ein wirkliches
Zusammenspiel, ein nicht allein richtiges, sondern auch lebendiges Vertheilen
von Licht und Schatten, eine wahre Mischung und Nuancirung der Farben
erreicht werden, wenn der einzelne sich im Ganzen fühlt, in jedem Moment
sich bewußt ist,'was hervor -- was zurücktreten, wer herrschen und wer unter¬
stützen, wo das Individuelle sich geltend machen und wo die Masse wirken solle.
Der Dirigent, dem es gelingt, zu diesem Verständniß sein Orchester zu führen,
wird es leiten, wie'einen lebendigen Organismus, dessen Seele er ist, der
durch ihn empfindet und versteht; er selbst wird getragen werden durch die Freudig¬
keit uicht zu einer prompter Erecntion dressirter' Maschinen, sondern zu freier
Thätigkeit belebter Künstler. Und die Aufführung eines Kunstwerks', welche
nicht allein als das Ueberwinden technischer Schwierigkeit, sondern als eine
freie Darstellung des geistigen Inhalts desselben erscheint, macht auch den
Zuhörer geistig frei und für die künstlerische Auffassung und Würdigung em¬
pfänglich. Allein nicht leicht und rasch ist dieses Verständniß erreicht. Es setzt
ein anhaltendes Studium, eine gründliche und eingehende Beschäftigung mit
dem Einzelnen voraus, die nichts in Bausch und Bogen nimmt, sondern dem
Kleinsten die Vollendung zu geben sich bemüht, ohne die sie im Großen nicht
erreicht werden kann. DK> Leistungen des Orchesters in den Concerten des
Pariser Conservatvire unter Habeneck sind durch die Vollendung der technischen
Ausführung, wie den Geist und das Feuer, von welchem sie durchdrungen
waren, allgemein und mit Recht berühmt. Aber wie wurden die Meisterwerke
dort bis ins Einzelnste studirt und geübt! Als einmal die neunte Symphonie
von Beethoven wieder aufgeführt wurde, war in der Probe das Crescendo zum
Schluß des ersten Satzes von neuem ein Gegenstand des sorgfältigsten Stu¬
diums. Zuerst wurden die Saiteninstrumente allein vorgenommen und nach
den genauesten Bestimmungen, um eine völlige Gleichheit der technischen Aus¬
führung zu erreichen, unermüdet probirt, bis eine allmälige Steigerung vom
pp. bis zum ik. erreicht wurde, von einer Wahrheit, wie wenn es die Aeußerung
eines lebenden Wesens gewesen wäre. Dann kamen die Blasinstrumente daran,
zuerst die Oboen. Kaum angefangen, mußten sie wieder aufhören: es war nicht,
die zarte Nuance.des leisen Tons getroffen, welchen Habeneck wünschte. Und
nun wurden die beiden großen Virtuosen, welche an dem Pult standen, nicht
müde, die vier Tacte zu blasen und wieder zu, blasen, um ihrem Herrn und
Meister zu genügen, der kopfschüttelnd und Gesichter schneidend vor ihnen auf-
und niederging, bis er auf einmal stehen blieb und ganz beglückt ausrief:
t^'est c^, mes enlÄnts. c'sse pa! Und das ganze Orchester, das schweigend zu¬
gehört hatte, erhob sich und klatschte Beifall. Diese Sorge um eine Tonnuance
wäre kleinlich gewesen, hätte es ein Virtuosenkunststück gegolten, aber aus der


Gefühl und die klare Einsicht von dem habe, was seine Leistung an jeder
Stelle für sich und für das Ganze bedeute. Erst dann wird ein wirkliches
Zusammenspiel, ein nicht allein richtiges, sondern auch lebendiges Vertheilen
von Licht und Schatten, eine wahre Mischung und Nuancirung der Farben
erreicht werden, wenn der einzelne sich im Ganzen fühlt, in jedem Moment
sich bewußt ist,'was hervor — was zurücktreten, wer herrschen und wer unter¬
stützen, wo das Individuelle sich geltend machen und wo die Masse wirken solle.
Der Dirigent, dem es gelingt, zu diesem Verständniß sein Orchester zu führen,
wird es leiten, wie'einen lebendigen Organismus, dessen Seele er ist, der
durch ihn empfindet und versteht; er selbst wird getragen werden durch die Freudig¬
keit uicht zu einer prompter Erecntion dressirter' Maschinen, sondern zu freier
Thätigkeit belebter Künstler. Und die Aufführung eines Kunstwerks', welche
nicht allein als das Ueberwinden technischer Schwierigkeit, sondern als eine
freie Darstellung des geistigen Inhalts desselben erscheint, macht auch den
Zuhörer geistig frei und für die künstlerische Auffassung und Würdigung em¬
pfänglich. Allein nicht leicht und rasch ist dieses Verständniß erreicht. Es setzt
ein anhaltendes Studium, eine gründliche und eingehende Beschäftigung mit
dem Einzelnen voraus, die nichts in Bausch und Bogen nimmt, sondern dem
Kleinsten die Vollendung zu geben sich bemüht, ohne die sie im Großen nicht
erreicht werden kann. DK> Leistungen des Orchesters in den Concerten des
Pariser Conservatvire unter Habeneck sind durch die Vollendung der technischen
Ausführung, wie den Geist und das Feuer, von welchem sie durchdrungen
waren, allgemein und mit Recht berühmt. Aber wie wurden die Meisterwerke
dort bis ins Einzelnste studirt und geübt! Als einmal die neunte Symphonie
von Beethoven wieder aufgeführt wurde, war in der Probe das Crescendo zum
Schluß des ersten Satzes von neuem ein Gegenstand des sorgfältigsten Stu¬
diums. Zuerst wurden die Saiteninstrumente allein vorgenommen und nach
den genauesten Bestimmungen, um eine völlige Gleichheit der technischen Aus¬
führung zu erreichen, unermüdet probirt, bis eine allmälige Steigerung vom
pp. bis zum ik. erreicht wurde, von einer Wahrheit, wie wenn es die Aeußerung
eines lebenden Wesens gewesen wäre. Dann kamen die Blasinstrumente daran,
zuerst die Oboen. Kaum angefangen, mußten sie wieder aufhören: es war nicht,
die zarte Nuance.des leisen Tons getroffen, welchen Habeneck wünschte. Und
nun wurden die beiden großen Virtuosen, welche an dem Pult standen, nicht
müde, die vier Tacte zu blasen und wieder zu, blasen, um ihrem Herrn und
Meister zu genügen, der kopfschüttelnd und Gesichter schneidend vor ihnen auf-
und niederging, bis er auf einmal stehen blieb und ganz beglückt ausrief:
t^'est c^, mes enlÄnts. c'sse pa! Und das ganze Orchester, das schweigend zu¬
gehört hatte, erhob sich und klatschte Beifall. Diese Sorge um eine Tonnuance
wäre kleinlich gewesen, hätte es ein Virtuosenkunststück gegolten, aber aus der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/12>, abgerufen am 22.07.2024.