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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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rische Darstellung der Religion. Wir meinen nicht die Geschichte der Offen¬
barung, die man am unbefangensten aus den Quellen schöpft, sondern die
Geschichte des christlichen Lebens, wie es sich im eignen Volk und zwar in
Perioden, die uns noch nahe liegen, gestaltet hat. '

Bücher, wie das.vorliegende, sind also von einer außerordentlichen Wich¬
tigkeit für das religiöse Leben überhaupt; sie können großen Schaden stiften,
wenn sie leichtsinnig oder vorurtheilsvoll abgefaßt sind, sie können aber der
gesunden Entwicklung sehr förderlich sein, wenn sie warme Theilnahme für die
Sache mit Freiheit und Unbefangenheit der Bildung vereinigen. Je seltner
eine solche Verbindung stattfinden wird, da der Eifer in der Regel die Unbe¬
fangenheit ausschließt, namentlich in geistlichen Dingen, wo sich die Phantasie
leicht dem ordnenden Maß des Verstandes entzieht, desto unerläßlicher ist sie,
wenn aus der Geschichte der Religion nicht ein Zerrbild werden soll.

Wenn man an das vorliegende Werk nicht den streng wissenschaftlichen
Maßstab anlegen will -- einen Maßstab, den der Verfasser selbst sehr entschieden
zurückweist -- so können wir den Eindruck des Ganzen nur befriedigend nen¬
nen. Der Verfasser vermeidet es absichtlich, sich in die eigentlich theologischen
Streitigkeiten einzulassen; er geht nur soweit auf sie ein, als sie dazu beitra¬
gen, uns ein Bild von den Culiurvcrhältnissen der Zeit überhaupt zu geben. Da¬
gegen geht er'sehr ausführlich auf die Wechselwirkung der politischen und re¬
ligiösen Bewegungen ein, und sucht mit soviel Gerechtigkeit, als für einen, der
selbst einer Partei angehört, möglich ist, nachzuweisen, inwieweit die Cultur
dadurch gefördert, inwieweit sie ausgehalten ist. Mit besonderer Vorliebe aber
stellt er die menschliche Seite der Religiosität dar, ihren Einfluß auf einzelne
bedeutende Charaktere, die theils als Bilder einer religiösen Richtung, theils
als Leiter des geistigen Fortschrittes für die Kulturgeschichte von Wichtigkeit
sind. Erfüllt von den christlichen Glaubenslehren, aber in der festen Ueber¬
zeugung, daß diese nur dann fruchtbar sind, wenn sie auf das praktische Leben
einwirken, und die Gesammtbildung der verschiedenen menschlichen Kräfte be¬
fördern, weist er in den verschiedenen Richtungen der Lutherischen Orthodorie,
des Puritanismus, des Pietismus, ver Mystik und des Rationalismus die
Einseitigkeiten nach, die vorzugsweise darin bestehen, daß sie eine specielle
Geistesthätigkeit zu ausschließlichem Gegenstand der Religiosität machen. Er
vergißt aber nicht hinzuzufügen, daß diese Einseitigkeiten einander ergänzen,
und wenn man sie von der culturhistorischen Perspective betrachtet, ein schönes
Gesammtbild vom Einfluß des Christenthums geben. Es- kommt nun darauf
an, was in' der Culturgeschichte sich in verschiedenen Erscheinungen auseinander¬
breitet, zu einer Gesammtwirkung zu vereinigen; und indem man den Verstand,
das Herz, die Einbildungskraft und das Gewissen gleichmäßig von der Reli¬
gion durchdringen läßt, eben dadurch die Einseitigkeiten, die der ausschließlichen


rische Darstellung der Religion. Wir meinen nicht die Geschichte der Offen¬
barung, die man am unbefangensten aus den Quellen schöpft, sondern die
Geschichte des christlichen Lebens, wie es sich im eignen Volk und zwar in
Perioden, die uns noch nahe liegen, gestaltet hat. '

Bücher, wie das.vorliegende, sind also von einer außerordentlichen Wich¬
tigkeit für das religiöse Leben überhaupt; sie können großen Schaden stiften,
wenn sie leichtsinnig oder vorurtheilsvoll abgefaßt sind, sie können aber der
gesunden Entwicklung sehr förderlich sein, wenn sie warme Theilnahme für die
Sache mit Freiheit und Unbefangenheit der Bildung vereinigen. Je seltner
eine solche Verbindung stattfinden wird, da der Eifer in der Regel die Unbe¬
fangenheit ausschließt, namentlich in geistlichen Dingen, wo sich die Phantasie
leicht dem ordnenden Maß des Verstandes entzieht, desto unerläßlicher ist sie,
wenn aus der Geschichte der Religion nicht ein Zerrbild werden soll.

Wenn man an das vorliegende Werk nicht den streng wissenschaftlichen
Maßstab anlegen will — einen Maßstab, den der Verfasser selbst sehr entschieden
zurückweist — so können wir den Eindruck des Ganzen nur befriedigend nen¬
nen. Der Verfasser vermeidet es absichtlich, sich in die eigentlich theologischen
Streitigkeiten einzulassen; er geht nur soweit auf sie ein, als sie dazu beitra¬
gen, uns ein Bild von den Culiurvcrhältnissen der Zeit überhaupt zu geben. Da¬
gegen geht er'sehr ausführlich auf die Wechselwirkung der politischen und re¬
ligiösen Bewegungen ein, und sucht mit soviel Gerechtigkeit, als für einen, der
selbst einer Partei angehört, möglich ist, nachzuweisen, inwieweit die Cultur
dadurch gefördert, inwieweit sie ausgehalten ist. Mit besonderer Vorliebe aber
stellt er die menschliche Seite der Religiosität dar, ihren Einfluß auf einzelne
bedeutende Charaktere, die theils als Bilder einer religiösen Richtung, theils
als Leiter des geistigen Fortschrittes für die Kulturgeschichte von Wichtigkeit
sind. Erfüllt von den christlichen Glaubenslehren, aber in der festen Ueber¬
zeugung, daß diese nur dann fruchtbar sind, wenn sie auf das praktische Leben
einwirken, und die Gesammtbildung der verschiedenen menschlichen Kräfte be¬
fördern, weist er in den verschiedenen Richtungen der Lutherischen Orthodorie,
des Puritanismus, des Pietismus, ver Mystik und des Rationalismus die
Einseitigkeiten nach, die vorzugsweise darin bestehen, daß sie eine specielle
Geistesthätigkeit zu ausschließlichem Gegenstand der Religiosität machen. Er
vergißt aber nicht hinzuzufügen, daß diese Einseitigkeiten einander ergänzen,
und wenn man sie von der culturhistorischen Perspective betrachtet, ein schönes
Gesammtbild vom Einfluß des Christenthums geben. Es- kommt nun darauf
an, was in' der Culturgeschichte sich in verschiedenen Erscheinungen auseinander¬
breitet, zu einer Gesammtwirkung zu vereinigen; und indem man den Verstand,
das Herz, die Einbildungskraft und das Gewissen gleichmäßig von der Reli¬
gion durchdringen läßt, eben dadurch die Einseitigkeiten, die der ausschließlichen


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[0117] rische Darstellung der Religion. Wir meinen nicht die Geschichte der Offen¬ barung, die man am unbefangensten aus den Quellen schöpft, sondern die Geschichte des christlichen Lebens, wie es sich im eignen Volk und zwar in Perioden, die uns noch nahe liegen, gestaltet hat. ' Bücher, wie das.vorliegende, sind also von einer außerordentlichen Wich¬ tigkeit für das religiöse Leben überhaupt; sie können großen Schaden stiften, wenn sie leichtsinnig oder vorurtheilsvoll abgefaßt sind, sie können aber der gesunden Entwicklung sehr förderlich sein, wenn sie warme Theilnahme für die Sache mit Freiheit und Unbefangenheit der Bildung vereinigen. Je seltner eine solche Verbindung stattfinden wird, da der Eifer in der Regel die Unbe¬ fangenheit ausschließt, namentlich in geistlichen Dingen, wo sich die Phantasie leicht dem ordnenden Maß des Verstandes entzieht, desto unerläßlicher ist sie, wenn aus der Geschichte der Religion nicht ein Zerrbild werden soll. Wenn man an das vorliegende Werk nicht den streng wissenschaftlichen Maßstab anlegen will — einen Maßstab, den der Verfasser selbst sehr entschieden zurückweist — so können wir den Eindruck des Ganzen nur befriedigend nen¬ nen. Der Verfasser vermeidet es absichtlich, sich in die eigentlich theologischen Streitigkeiten einzulassen; er geht nur soweit auf sie ein, als sie dazu beitra¬ gen, uns ein Bild von den Culiurvcrhältnissen der Zeit überhaupt zu geben. Da¬ gegen geht er'sehr ausführlich auf die Wechselwirkung der politischen und re¬ ligiösen Bewegungen ein, und sucht mit soviel Gerechtigkeit, als für einen, der selbst einer Partei angehört, möglich ist, nachzuweisen, inwieweit die Cultur dadurch gefördert, inwieweit sie ausgehalten ist. Mit besonderer Vorliebe aber stellt er die menschliche Seite der Religiosität dar, ihren Einfluß auf einzelne bedeutende Charaktere, die theils als Bilder einer religiösen Richtung, theils als Leiter des geistigen Fortschrittes für die Kulturgeschichte von Wichtigkeit sind. Erfüllt von den christlichen Glaubenslehren, aber in der festen Ueber¬ zeugung, daß diese nur dann fruchtbar sind, wenn sie auf das praktische Leben einwirken, und die Gesammtbildung der verschiedenen menschlichen Kräfte be¬ fördern, weist er in den verschiedenen Richtungen der Lutherischen Orthodorie, des Puritanismus, des Pietismus, ver Mystik und des Rationalismus die Einseitigkeiten nach, die vorzugsweise darin bestehen, daß sie eine specielle Geistesthätigkeit zu ausschließlichem Gegenstand der Religiosität machen. Er vergißt aber nicht hinzuzufügen, daß diese Einseitigkeiten einander ergänzen, und wenn man sie von der culturhistorischen Perspective betrachtet, ein schönes Gesammtbild vom Einfluß des Christenthums geben. Es- kommt nun darauf an, was in' der Culturgeschichte sich in verschiedenen Erscheinungen auseinander¬ breitet, zu einer Gesammtwirkung zu vereinigen; und indem man den Verstand, das Herz, die Einbildungskraft und das Gewissen gleichmäßig von der Reli¬ gion durchdringen läßt, eben dadurch die Einseitigkeiten, die der ausschließlichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/117>, abgerufen am 22.07.2024.