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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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Der Geheimnißvolle (1823) spielt in den Zeiten der französischen
Herrschaft und sieht fast so aus, wie ein gelinder Spott gegen den National-
enthustasmus. Der Held, der beinahe dazu gekommen wäre, als Märtyrer der
guten Sache zu fallen, ist ein Lügner und Windbeutel ohne allen Inhalt, ja
ohne allen Humor. Er entschädigt uns nicht wie Falstaff für seine sittliche
Hohlheit durch übermüthige Laune und Ueppigkeit der Erfindung, er ist viel¬
mehr in seinen Lügen so trocken und hilflos, daß er in gewissem Sinne unser
Mitleid erregt. Dieses Mitleid hat der Dichter auch in der That geltenv-
gemacbt. Er läßt den hohlen Prahlhans glücklich werden mit gelinder An¬
deutung, daß er sich bessern werde. ES ist das eine höchst seltsame Erfindung
und sieht fast so aus, als ob nach der Ansicht des Dichters doch auch die
heiligsten Regungen des Menschenlebens zum großen Theil auf Wahn und
Einbildung beruhten; so daß man gegen die ausgesprochene Lügenhaftigkeit
keine Ursache habe, den Trumpf sittlicher Entrüstung auszuspielen.

Noch viel seltsamer ist die Erfindung in der folgenden Novelle: Die
Reisenden (1824). Die Scene geht in einem Irrenhaus vor sich, in welchem
zuletzt der Arzt und Director gleichfalls verrückt wird und die sämmtlichen
Kranken als geheilt entläßt. Nach der Vorstellung von der Welt, die man
aus dieser Erzählung gewinnt, hat er auch gar nicht zu unrecht; denn die an¬
geblich vernünftigen Menschen, die'diesen befreiten und umherirrenden Tollen
begegnen, sind eigentlich viel verrückter als diese: ja es steht so aus, als ob
der sogenannte gesunde Menschenverstand nur in einer gewissen Talentlosigkeit,
in einer Unproductivität der Phantasie bestehe. In dem allgemeinen Irrenhaus,
welches die Welt genannt wird, scheinen die ausgebrochenen Tollen die legi¬
timsten Bürger zu sein. Glücklicherweise vermeidet Tieck bei dieser Darstellung
wenigstens den schlimmsten Fehler, in den Hoffmann wahrscheinlich verfallen
sein wurde; nämlich den Wahnsinn auch noch von seiner tragischen Seite zu
zeigen. Er bleibt stets in der reinen Posse, grade wie Kotzebue in seinem
Pachter Feldkümmel, wobei man freilich die Frage ausstellen kann, ob es auch
erlaubt ist, den Wahnsinn' von der komischen Seite zu zeigen. Eine reine,
volle und üppige Komik wird doch dadurch nicht hervorgebracht; denn bei der
bloße-n Absurdität fehlt uns der Maßstab, den wir bei einem unbefangenen
Gelächter nicht entbehren können.

Die musikalischen Leiden und Freuden (1824.) sind in der Anlage
wie in der Ausführung ganz im Hoffmannschen Geschmack, aber viel ungeschickter
und unreinlicher erzählt. Tieck hatte durchaus keine Veranlassung, auf diesen
Dichter, der zugleich sein Nachahmer und sein Vorbild war, mit soviel Gering¬
schätzung herabzublicken. Die Ansichten, die er bei dieser Gelegenheit in der
Musik entwickelt, sind viel schwächer und unbedeutender als bei Hoffmann. Man
sieht den bloßen Dilettanten.


Der Geheimnißvolle (1823) spielt in den Zeiten der französischen
Herrschaft und sieht fast so aus, wie ein gelinder Spott gegen den National-
enthustasmus. Der Held, der beinahe dazu gekommen wäre, als Märtyrer der
guten Sache zu fallen, ist ein Lügner und Windbeutel ohne allen Inhalt, ja
ohne allen Humor. Er entschädigt uns nicht wie Falstaff für seine sittliche
Hohlheit durch übermüthige Laune und Ueppigkeit der Erfindung, er ist viel¬
mehr in seinen Lügen so trocken und hilflos, daß er in gewissem Sinne unser
Mitleid erregt. Dieses Mitleid hat der Dichter auch in der That geltenv-
gemacbt. Er läßt den hohlen Prahlhans glücklich werden mit gelinder An¬
deutung, daß er sich bessern werde. ES ist das eine höchst seltsame Erfindung
und sieht fast so aus, als ob nach der Ansicht des Dichters doch auch die
heiligsten Regungen des Menschenlebens zum großen Theil auf Wahn und
Einbildung beruhten; so daß man gegen die ausgesprochene Lügenhaftigkeit
keine Ursache habe, den Trumpf sittlicher Entrüstung auszuspielen.

Noch viel seltsamer ist die Erfindung in der folgenden Novelle: Die
Reisenden (1824). Die Scene geht in einem Irrenhaus vor sich, in welchem
zuletzt der Arzt und Director gleichfalls verrückt wird und die sämmtlichen
Kranken als geheilt entläßt. Nach der Vorstellung von der Welt, die man
aus dieser Erzählung gewinnt, hat er auch gar nicht zu unrecht; denn die an¬
geblich vernünftigen Menschen, die'diesen befreiten und umherirrenden Tollen
begegnen, sind eigentlich viel verrückter als diese: ja es steht so aus, als ob
der sogenannte gesunde Menschenverstand nur in einer gewissen Talentlosigkeit,
in einer Unproductivität der Phantasie bestehe. In dem allgemeinen Irrenhaus,
welches die Welt genannt wird, scheinen die ausgebrochenen Tollen die legi¬
timsten Bürger zu sein. Glücklicherweise vermeidet Tieck bei dieser Darstellung
wenigstens den schlimmsten Fehler, in den Hoffmann wahrscheinlich verfallen
sein wurde; nämlich den Wahnsinn auch noch von seiner tragischen Seite zu
zeigen. Er bleibt stets in der reinen Posse, grade wie Kotzebue in seinem
Pachter Feldkümmel, wobei man freilich die Frage ausstellen kann, ob es auch
erlaubt ist, den Wahnsinn' von der komischen Seite zu zeigen. Eine reine,
volle und üppige Komik wird doch dadurch nicht hervorgebracht; denn bei der
bloße-n Absurdität fehlt uns der Maßstab, den wir bei einem unbefangenen
Gelächter nicht entbehren können.

Die musikalischen Leiden und Freuden (1824.) sind in der Anlage
wie in der Ausführung ganz im Hoffmannschen Geschmack, aber viel ungeschickter
und unreinlicher erzählt. Tieck hatte durchaus keine Veranlassung, auf diesen
Dichter, der zugleich sein Nachahmer und sein Vorbild war, mit soviel Gering¬
schätzung herabzublicken. Die Ansichten, die er bei dieser Gelegenheit in der
Musik entwickelt, sind viel schwächer und unbedeutender als bei Hoffmann. Man
sieht den bloßen Dilettanten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/110>, abgerufen am 24.08.2024.