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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band.

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an die Gewohnheiten unsres Theaters und an die geläufigen Vorstellungen
unsrer Poesie. Umsomehr werden wir durch die Widersprüche in dem Inhalt
verletzt. Zwar ist in der poetischen Auffassung der Natur, in dem warmen,
zärtlichen Verhältniß des Menschen zu Pflanzen, Thieren u. s. w. etwas, was
unsrem Gemüthsleben, wie es sich jetzt gebildet hat, sehr verwandt ist. Aber
abgesehen von den mythisch-sittlichen Vorstellungen der Jndier, die uns auf
jeder Seite aufstoßen, z. B. von der Wunderkraft, die man durch das Verdienst
der guten Werke erwirbt, ohne daß das Gemüth dabei betheiligt wäre und
von dem Neide, welchen die Götter darüber empfinden, ^venu ein frommer
Einsiedler durch Fasten, Bußen und dergleichen sich eine Macht erwirbt', die
ihm selbst gefährlich werden kann, ist es auch die vollständig abweichende Tech¬
nik, die unsre Reminiscenzen an das gewöhnliche Theater iir'Verwirrung brin¬
gen. Fragmentarisch aneinandergeknüpfte dramatische" Scenen lassen wir uns
wol gefallen, da wir selbst mehr, als wünschenswert!) ist, daran gewöhnt sind;,
aber ein beständiges Retardiren der Handlung, eine Breite, die auf das Un¬
wesentliche ebensoviel Gewicht legt, wie auf das Wesentliche, verstößt umso¬
mehr gegen unsre Gewohnheiten, wenn zugleich das erregende Motiv der
Handlung uns unverständlich ist. Sakuntala hat sich in freier Liebe mit dem
König von Indien verlobt und dieser hat ihr durch das Unterpfand eines Rin¬
ges versprochen, sie bald als seine Braut heimzuführen. Da sie nun aber ganz
von ihrer Liebe erfüllt ist, versäumt sie einmal die strengste ihrer Pflichten,
nämlich die Gastfreundschaft gegen einen Heiligen. Der erzürnte Heilige spricht
die Verwünschung über sie aus, ihr Gatte solle sie vergessen, bis durch die
Anschauung eines Unterpfandes seine Erinnerung wieder geweckt wird. Die
Verwünschung würde also gar keine Wirkung haben, da ein solches Unterpfand
vorhanden ist, wenn nicht Sakuntala zufällig im Bade den Ring verlöre.
So dauert also die Entfremdung solange, bis der verhängnisvolle Ring, wie
der Ring des. Polykrates, in dem Magen eines Fisches aufgefunden wird.
Diese Art zu motiviren und zu retardiren erscheint nach unsren Begriffen von
dramatischer Kunst, die beiläufig einen mehr als subjectiven Werth beanspru¬
chen, nicht statthaft: und so wird das übrigens höchst poetische Werk auf uns
immer den Eindruck von etwas Fremdartigen machen. Diese Fremdartigkeit
erscheint in der prosaischen Form, durch welche der Uebersetzer von vornherein
darauf verzichtet, gegen unsre eignen poetischen Erinnerungen in die Schranken
zu treten, vielweniger auffallend, als bei d,em Versuch, den Unterschied durch
Nachbildung der Form künstlich zu verstecken, und in dieser Beziehung geben
wir der Forsterschen Uebersetzung vor der gegenwärtigen, die wegen ihres Fleißes
und ihres Geschmacks alles Lob verdient, den Vorzug. --




an die Gewohnheiten unsres Theaters und an die geläufigen Vorstellungen
unsrer Poesie. Umsomehr werden wir durch die Widersprüche in dem Inhalt
verletzt. Zwar ist in der poetischen Auffassung der Natur, in dem warmen,
zärtlichen Verhältniß des Menschen zu Pflanzen, Thieren u. s. w. etwas, was
unsrem Gemüthsleben, wie es sich jetzt gebildet hat, sehr verwandt ist. Aber
abgesehen von den mythisch-sittlichen Vorstellungen der Jndier, die uns auf
jeder Seite aufstoßen, z. B. von der Wunderkraft, die man durch das Verdienst
der guten Werke erwirbt, ohne daß das Gemüth dabei betheiligt wäre und
von dem Neide, welchen die Götter darüber empfinden, ^venu ein frommer
Einsiedler durch Fasten, Bußen und dergleichen sich eine Macht erwirbt', die
ihm selbst gefährlich werden kann, ist es auch die vollständig abweichende Tech¬
nik, die unsre Reminiscenzen an das gewöhnliche Theater iir'Verwirrung brin¬
gen. Fragmentarisch aneinandergeknüpfte dramatische" Scenen lassen wir uns
wol gefallen, da wir selbst mehr, als wünschenswert!) ist, daran gewöhnt sind;,
aber ein beständiges Retardiren der Handlung, eine Breite, die auf das Un¬
wesentliche ebensoviel Gewicht legt, wie auf das Wesentliche, verstößt umso¬
mehr gegen unsre Gewohnheiten, wenn zugleich das erregende Motiv der
Handlung uns unverständlich ist. Sakuntala hat sich in freier Liebe mit dem
König von Indien verlobt und dieser hat ihr durch das Unterpfand eines Rin¬
ges versprochen, sie bald als seine Braut heimzuführen. Da sie nun aber ganz
von ihrer Liebe erfüllt ist, versäumt sie einmal die strengste ihrer Pflichten,
nämlich die Gastfreundschaft gegen einen Heiligen. Der erzürnte Heilige spricht
die Verwünschung über sie aus, ihr Gatte solle sie vergessen, bis durch die
Anschauung eines Unterpfandes seine Erinnerung wieder geweckt wird. Die
Verwünschung würde also gar keine Wirkung haben, da ein solches Unterpfand
vorhanden ist, wenn nicht Sakuntala zufällig im Bade den Ring verlöre.
So dauert also die Entfremdung solange, bis der verhängnisvolle Ring, wie
der Ring des. Polykrates, in dem Magen eines Fisches aufgefunden wird.
Diese Art zu motiviren und zu retardiren erscheint nach unsren Begriffen von
dramatischer Kunst, die beiläufig einen mehr als subjectiven Werth beanspru¬
chen, nicht statthaft: und so wird das übrigens höchst poetische Werk auf uns
immer den Eindruck von etwas Fremdartigen machen. Diese Fremdartigkeit
erscheint in der prosaischen Form, durch welche der Uebersetzer von vornherein
darauf verzichtet, gegen unsre eignen poetischen Erinnerungen in die Schranken
zu treten, vielweniger auffallend, als bei d,em Versuch, den Unterschied durch
Nachbildung der Form künstlich zu verstecken, und in dieser Beziehung geben
wir der Forsterschen Uebersetzung vor der gegenwärtigen, die wegen ihres Fleißes
und ihres Geschmacks alles Lob verdient, den Vorzug. —




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_96706/100>, abgerufen am 22.07.2024.