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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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angelegt und hat mehr Composition als einer der bisher besprochenen. Der
Verfasser hat die Verirrungen darzustellen gesucht, in welche ein ursprünglich
wohlgesinnter Charakter kommt, wenn er da, wo es auf sein Lebensglück an¬
kommt, der Stimme der sogenannten Weltklugheit zu viel Gehör gibt. Er
hätte seinen Zweck noch mehr erreicht, wenn er bescheidnere Farben gewählt
hätte. Seine Darstellung einer Convenienzheirath ist nach beiden Seiten hin
carrikirt und flößt keinen Glauben ein; und auf der andern Seite fehlt der
tugendhaften Heldin zu sehr alle natürliche, menschliche Regung, alle Erin¬
nerung menschlicher Schwäche, als daß wir nicht auch hier hin und wieder
ungläubig werden sollten. Einen großen Theil seiner Erzählung hat der Ver¬
fasser nach Amerika verlegt. Die dortigen Zustände sind mit einer Bitterkeit
geschildert, die fast noch über Dickens hinausgeht. Hin und wieder merkt
Man wol, daß durch einige hellere Schilderungen die Einförmigkeit dieses Ge¬
mäldes unterbrochen werden soll, allein diese treten zu wenig hervor, um den
Zweck zu erreichen. -- Bei künftigen Versuchen wäre dem Dichter ein strenge¬
res Zusammenhalten und ein sorgfältiges Vermeiden aller Sprünge anzu¬
empfehlen. --

Erinnerungsblätter aus dem Leben e in es Crim ma list en. Von
Ernst Fritze. Leipzig, Kollmann. -- Eine große Zahl ziemlich pikanter
Mminalistischer Anekdoten, sämmtlich von einem sehr düstern und häßlichen
Inhalt. Der Verfasser erklärt in der Vorrede seinem Leser, "daß er keine Er¬
dichtungen zu erwarten hat, sondern actenmäßig verbürgte Thatsachen, denen
das Gewand der Novellistik eine gewisse Abrundung verliehen hat, ohne der
historischen Genauigkeit des Factums im mindesten Abbruch zu thun." -- Es
scheint uns aber unmöglich, beides so miteinander zu vereinigen, daß nicht
das eine oder das andere darunter litte. Will man eine Criminalgeschichte
einem Roman zu Grunde legen, so muß die Thatsache nach ästhetischen Ge¬
setzen bearbeitet werden. Will man aber historische Wahrheit, so muß man
"vvellistische Abrundung aufgeben. "ES ist jetzt gebräuchlich, sährt der Ber-
fasser. fort, das Feld der Belletristik mit den Verirrungen des menschlichen
Herzens zu staffiren, um dem Roman einen pikanten Zusatz in, halbwahren
aufgegriffenen Criminalfällen zu geben. Hier in diesem Werk findet es der
^eher umgekehrt. Hier ist die Form und die Sprache der Belletristik entnommen;
hier ist der Phantasie nur soviel Spielraum gestattet, um die Staffage bilden
on können, und alles übrige ist der unverletzt gebliebene Körper Wahrheit,
dem man nur die Monotonie der juristischen Berichterstattung rauben wollte."
^'n ganzen scheint doch beides aus dasselbe herauszukommen; und wenn wir
dem Verfasser auch gern das Zeugniß ausstellen wollen, daß er nicht in der
Weise der französischen Belletristen hat die Phantasie aufreizen wollen, so bleibt
doch immer die Häßlichkeit des Gegenstandes, die nur durch eine bestimmt her-


angelegt und hat mehr Composition als einer der bisher besprochenen. Der
Verfasser hat die Verirrungen darzustellen gesucht, in welche ein ursprünglich
wohlgesinnter Charakter kommt, wenn er da, wo es auf sein Lebensglück an¬
kommt, der Stimme der sogenannten Weltklugheit zu viel Gehör gibt. Er
hätte seinen Zweck noch mehr erreicht, wenn er bescheidnere Farben gewählt
hätte. Seine Darstellung einer Convenienzheirath ist nach beiden Seiten hin
carrikirt und flößt keinen Glauben ein; und auf der andern Seite fehlt der
tugendhaften Heldin zu sehr alle natürliche, menschliche Regung, alle Erin¬
nerung menschlicher Schwäche, als daß wir nicht auch hier hin und wieder
ungläubig werden sollten. Einen großen Theil seiner Erzählung hat der Ver¬
fasser nach Amerika verlegt. Die dortigen Zustände sind mit einer Bitterkeit
geschildert, die fast noch über Dickens hinausgeht. Hin und wieder merkt
Man wol, daß durch einige hellere Schilderungen die Einförmigkeit dieses Ge¬
mäldes unterbrochen werden soll, allein diese treten zu wenig hervor, um den
Zweck zu erreichen. — Bei künftigen Versuchen wäre dem Dichter ein strenge¬
res Zusammenhalten und ein sorgfältiges Vermeiden aller Sprünge anzu¬
empfehlen. —

Erinnerungsblätter aus dem Leben e in es Crim ma list en. Von
Ernst Fritze. Leipzig, Kollmann. — Eine große Zahl ziemlich pikanter
Mminalistischer Anekdoten, sämmtlich von einem sehr düstern und häßlichen
Inhalt. Der Verfasser erklärt in der Vorrede seinem Leser, „daß er keine Er¬
dichtungen zu erwarten hat, sondern actenmäßig verbürgte Thatsachen, denen
das Gewand der Novellistik eine gewisse Abrundung verliehen hat, ohne der
historischen Genauigkeit des Factums im mindesten Abbruch zu thun." — Es
scheint uns aber unmöglich, beides so miteinander zu vereinigen, daß nicht
das eine oder das andere darunter litte. Will man eine Criminalgeschichte
einem Roman zu Grunde legen, so muß die Thatsache nach ästhetischen Ge¬
setzen bearbeitet werden. Will man aber historische Wahrheit, so muß man
"vvellistische Abrundung aufgeben. „ES ist jetzt gebräuchlich, sährt der Ber-
fasser. fort, das Feld der Belletristik mit den Verirrungen des menschlichen
Herzens zu staffiren, um dem Roman einen pikanten Zusatz in, halbwahren
aufgegriffenen Criminalfällen zu geben. Hier in diesem Werk findet es der
^eher umgekehrt. Hier ist die Form und die Sprache der Belletristik entnommen;
hier ist der Phantasie nur soviel Spielraum gestattet, um die Staffage bilden
on können, und alles übrige ist der unverletzt gebliebene Körper Wahrheit,
dem man nur die Monotonie der juristischen Berichterstattung rauben wollte."
^'n ganzen scheint doch beides aus dasselbe herauszukommen; und wenn wir
dem Verfasser auch gern das Zeugniß ausstellen wollen, daß er nicht in der
Weise der französischen Belletristen hat die Phantasie aufreizen wollen, so bleibt
doch immer die Häßlichkeit des Gegenstandes, die nur durch eine bestimmt her-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/485>, abgerufen am 01.09.2024.