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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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da wir das gesammte Alterthum mit einem Blick übersehen, die Macht des
Verhängnisses als den eigentlichen Kern der Geschichte aufzufassen und in den
individuellen Erscheinungen eben nur Erscheinungen zu sehen > die unsre Idee
versinnlichen, die aber nicht dem gewöhnlichen Maßstab unterliegen. Im Ge¬
gentheil sind wir zuweilen soweit gegangen, diejenigen Männer, die sich dem
von uns gekannten Fortgang der Ideen widersetzten, z, B. Demosthenes, als
Thoren zu bemitleiden. Von dieser höheren Auffassung der Geschichte hält sich
Grote fern. Recht und Unrecht sind ihm einfache Begriffe, die der welthisto¬
rischen Dialektik nicht unterliegen. Nun können wir uns zwar eine höhere
Form der Darstellung denken, in welcher der Naturproceß veranschaulicht würde,
ohne das moralische Urtheil zu beeinträchtigen, denn nach Grotes Darstellung
sieht es allerdings so aus, als ob nur eine Reihe individueller Fehltritte den
Untergang Griechenlands verschuldeten, während er durch das Lebensmotiv des
Volks indicirt war. Allein vorläufig muß uns diese moralisch pragmatische
Auffassung wichtiger sein, als die fatalistische: wichtiger für die unbefangene
Beurtheilung des Alterthums, noch viel wichtiger aber für die Aufmerksamkeit
aus unsre eignen Angelegenheiten. Denn wenn wir in Griechenland jeder
Usurpation Recht geben, die sich durch den spätern Erfolg als zweckmäßig
erwies, so werden wir uns leicht versucht fühlen, auch unsre Zeit ungefähr
in der Weise Bruno Bauers zu beurtheilen, der es als das deutsche Verhäng-
niß betrachtet, russisch zu werden und der daher auf jeden einzelnen mit mit¬
leidigem Lächeln herabsieht, der sich diesem Verhängniß widersetzt. Was unser
Verhängnis) ist, wissen wir vorläufig nicht; denn noch hat keine Philosophie
ihren Jüngern die Mittel an die Hand gegeben, die Zukunft mit Gewißheit
zu berechnen, aber sehr genau, wissen wir, was in jedem einzelnen Falle das
Gewissen und die Ehre von uns erheischt: und diese Ueberzeugung festzuhalten
ist wichtiger, als alle Spekulation. -- Wenn wir hier unsrem Hauptzweck
gemäß es für angemessen hielten, vorzugsweise auf den moralischen Sinn des
vorliegenden Geschichtswerks einzugehen, so dürfen wir doch darüber nicht über¬
sehen, daß sein Talent die Ereignisse in ihrer Mannigfaltigkeit aufzufassen und
in lebendiger Bewegung darzustellen ebenso bewundernswürdig ist. Der zweite
Band zerfällt in zwei Gruppen, die Ereignisse in- Sicilien bis zu Timoleons
Tod und die Ereignisse in Griechenland bis zu Philipps Tod. In der ersten
Gruppe ist ihm vorzugsweise die Charakteristik von Dion und Plato, soweit
derselbe mit dem Syrakusischen Hose in Berührung kam, gelungen. Die be¬
denkliche und zweifelhafte Stellung der reflectirten philosophischen Bildung,
den Thatsachen gegenüber, ist meisterhaft entwickelt. Die Geschichte des Timo-
leon bildet dazu einen schönen Gegensatz, denn es zeigt sich in ihr, wie der
gesunde Menschenverstand und das natürliche Rechtsgefühl viel segensreicher
wirken, als aller speculative Idealismus. Im übrigen hat die Darstellung


da wir das gesammte Alterthum mit einem Blick übersehen, die Macht des
Verhängnisses als den eigentlichen Kern der Geschichte aufzufassen und in den
individuellen Erscheinungen eben nur Erscheinungen zu sehen > die unsre Idee
versinnlichen, die aber nicht dem gewöhnlichen Maßstab unterliegen. Im Ge¬
gentheil sind wir zuweilen soweit gegangen, diejenigen Männer, die sich dem
von uns gekannten Fortgang der Ideen widersetzten, z, B. Demosthenes, als
Thoren zu bemitleiden. Von dieser höheren Auffassung der Geschichte hält sich
Grote fern. Recht und Unrecht sind ihm einfache Begriffe, die der welthisto¬
rischen Dialektik nicht unterliegen. Nun können wir uns zwar eine höhere
Form der Darstellung denken, in welcher der Naturproceß veranschaulicht würde,
ohne das moralische Urtheil zu beeinträchtigen, denn nach Grotes Darstellung
sieht es allerdings so aus, als ob nur eine Reihe individueller Fehltritte den
Untergang Griechenlands verschuldeten, während er durch das Lebensmotiv des
Volks indicirt war. Allein vorläufig muß uns diese moralisch pragmatische
Auffassung wichtiger sein, als die fatalistische: wichtiger für die unbefangene
Beurtheilung des Alterthums, noch viel wichtiger aber für die Aufmerksamkeit
aus unsre eignen Angelegenheiten. Denn wenn wir in Griechenland jeder
Usurpation Recht geben, die sich durch den spätern Erfolg als zweckmäßig
erwies, so werden wir uns leicht versucht fühlen, auch unsre Zeit ungefähr
in der Weise Bruno Bauers zu beurtheilen, der es als das deutsche Verhäng-
niß betrachtet, russisch zu werden und der daher auf jeden einzelnen mit mit¬
leidigem Lächeln herabsieht, der sich diesem Verhängniß widersetzt. Was unser
Verhängnis) ist, wissen wir vorläufig nicht; denn noch hat keine Philosophie
ihren Jüngern die Mittel an die Hand gegeben, die Zukunft mit Gewißheit
zu berechnen, aber sehr genau, wissen wir, was in jedem einzelnen Falle das
Gewissen und die Ehre von uns erheischt: und diese Ueberzeugung festzuhalten
ist wichtiger, als alle Spekulation. — Wenn wir hier unsrem Hauptzweck
gemäß es für angemessen hielten, vorzugsweise auf den moralischen Sinn des
vorliegenden Geschichtswerks einzugehen, so dürfen wir doch darüber nicht über¬
sehen, daß sein Talent die Ereignisse in ihrer Mannigfaltigkeit aufzufassen und
in lebendiger Bewegung darzustellen ebenso bewundernswürdig ist. Der zweite
Band zerfällt in zwei Gruppen, die Ereignisse in- Sicilien bis zu Timoleons
Tod und die Ereignisse in Griechenland bis zu Philipps Tod. In der ersten
Gruppe ist ihm vorzugsweise die Charakteristik von Dion und Plato, soweit
derselbe mit dem Syrakusischen Hose in Berührung kam, gelungen. Die be¬
denkliche und zweifelhafte Stellung der reflectirten philosophischen Bildung,
den Thatsachen gegenüber, ist meisterhaft entwickelt. Die Geschichte des Timo-
leon bildet dazu einen schönen Gegensatz, denn es zeigt sich in ihr, wie der
gesunde Menschenverstand und das natürliche Rechtsgefühl viel segensreicher
wirken, als aller speculative Idealismus. Im übrigen hat die Darstellung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/380>, abgerufen am 06.10.2024.