Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

durch die Einwirkung der historisch-juristischen Kritik, theils durch die Philosophie
der Geschichte Gesichtspunkte angeeignet, welche die natürliche, unbefangene
Anschauung verwirren. Zwar wollen wir den Gewinn nach beiden Seiten
nicht gering anschlagen, denn wir haben sowol von den Juristen als von den
Philosophen gelernt, daß uns in der Geschichte noch vieles Andere interessiren
muß, als die hervorstechenden Thatsachen und Persönlichkeiten. Es ist dadurch
Methode und Inhalt in unsre Studien gekommen und wenn es uns einmal
gelingt, die Reflerion wieder zum Mittel herabzusetzen, so werden wir zur Ge¬
schichtschreibung mehr als ein anderes Volk berufen sein. Allein vorläufig
stehen wir?noch unter der Reflexion und es verwirrt unsre Darstellung um-
somehr, da einseitige Gesichtspunkte sich hart aneinanderdrängen und bis
jetzt umsonst nach der rechten Mitte suchen. Zuerst kam bei uns idie mytho¬
logische Schule, die das specifisch griechische Wesen geringschätzte und eS gern
in die Nacht der orientalischen Symbolik vertieft hätte, dann die historische
von Ottfried Müller, der mit seinem conservativen Princip und seinem Natur¬
wuchs wieder nach einer anderen Seite hin symbolisirte, endlich die Hegelsche
Philosophie, die von ihrer Vogelperspektive aus sehr große und kühne Umrisse
gewann, aber dafür das Einzelne auf eine gar zu leichtfertige Weise behandelte.
So verwirren sich denn bei unsren Darstellungen die Principien aus das son¬
derbarste. Die einen sehen in der ganzen griechischen Entwicklung den abge¬
schwächten Ausfluß einer früheren, höheren und reineren Bildung, die anderen,
wie Ottfried Müller und seine Schule, stellen die naturwüchsige d. h. pedantische
und einseitige Entwicklung des dorischen Stammes, von dem man früher und
zwar ganz mit Recht nur die Heldenthaten der Thermopylen beachtungs¬
werth gesunden hatte, als die reinste Entfaltung des griechischen Wesens dar
und würden die Demagogen und Philosophen von Athen gern aus der Ge¬
schichte entfernen; die Hegelianer endlich erblicken in der griechischen Cultur
nur ein leuchtendes Meteor, welches wesentlich keine andere Bestimmung gehabt
habe, als unsrer Zeit als poetisches Ideal überliefert zu werden, während es
in der Wirklichkeit seinem Verhängnis) zuerst in der macedonischen, dann in
der römischen Knechtschaft anheimfallen mußte. -- Diese Weise der Betrach¬
tungen ist mehr oder weniger jedem unter uns geläufig, der die gewöhnliche
Bildungsschule durchgemacht hat, und so erregt uns denn Grotes naive und
treuherzige Darstellung, so naturgemäß sie ist, aus den ersten Anblick ein ge¬
wisses Befremden. Grote hält in dem richtigen Gefühl, daß der Kern der
Sittlichkeit in allen Verwandlungen der Form derselbe bleibt, überall den mo¬
ralischen Maßstab fest, den er bei den Thaten seiner eignen Zeit anwenden
würde, und der Abstand von zwei Jahrtausenden reicht keineswegs aus, um
den König Philipp wegen seiner strafbaren Unternehmungen gegen die Freiheit
und das Recht der Griechen zu entschuldigen. Wir sind im Gegentheil geneigt,


47*

durch die Einwirkung der historisch-juristischen Kritik, theils durch die Philosophie
der Geschichte Gesichtspunkte angeeignet, welche die natürliche, unbefangene
Anschauung verwirren. Zwar wollen wir den Gewinn nach beiden Seiten
nicht gering anschlagen, denn wir haben sowol von den Juristen als von den
Philosophen gelernt, daß uns in der Geschichte noch vieles Andere interessiren
muß, als die hervorstechenden Thatsachen und Persönlichkeiten. Es ist dadurch
Methode und Inhalt in unsre Studien gekommen und wenn es uns einmal
gelingt, die Reflerion wieder zum Mittel herabzusetzen, so werden wir zur Ge¬
schichtschreibung mehr als ein anderes Volk berufen sein. Allein vorläufig
stehen wir?noch unter der Reflexion und es verwirrt unsre Darstellung um-
somehr, da einseitige Gesichtspunkte sich hart aneinanderdrängen und bis
jetzt umsonst nach der rechten Mitte suchen. Zuerst kam bei uns idie mytho¬
logische Schule, die das specifisch griechische Wesen geringschätzte und eS gern
in die Nacht der orientalischen Symbolik vertieft hätte, dann die historische
von Ottfried Müller, der mit seinem conservativen Princip und seinem Natur¬
wuchs wieder nach einer anderen Seite hin symbolisirte, endlich die Hegelsche
Philosophie, die von ihrer Vogelperspektive aus sehr große und kühne Umrisse
gewann, aber dafür das Einzelne auf eine gar zu leichtfertige Weise behandelte.
So verwirren sich denn bei unsren Darstellungen die Principien aus das son¬
derbarste. Die einen sehen in der ganzen griechischen Entwicklung den abge¬
schwächten Ausfluß einer früheren, höheren und reineren Bildung, die anderen,
wie Ottfried Müller und seine Schule, stellen die naturwüchsige d. h. pedantische
und einseitige Entwicklung des dorischen Stammes, von dem man früher und
zwar ganz mit Recht nur die Heldenthaten der Thermopylen beachtungs¬
werth gesunden hatte, als die reinste Entfaltung des griechischen Wesens dar
und würden die Demagogen und Philosophen von Athen gern aus der Ge¬
schichte entfernen; die Hegelianer endlich erblicken in der griechischen Cultur
nur ein leuchtendes Meteor, welches wesentlich keine andere Bestimmung gehabt
habe, als unsrer Zeit als poetisches Ideal überliefert zu werden, während es
in der Wirklichkeit seinem Verhängnis) zuerst in der macedonischen, dann in
der römischen Knechtschaft anheimfallen mußte. — Diese Weise der Betrach¬
tungen ist mehr oder weniger jedem unter uns geläufig, der die gewöhnliche
Bildungsschule durchgemacht hat, und so erregt uns denn Grotes naive und
treuherzige Darstellung, so naturgemäß sie ist, aus den ersten Anblick ein ge¬
wisses Befremden. Grote hält in dem richtigen Gefühl, daß der Kern der
Sittlichkeit in allen Verwandlungen der Form derselbe bleibt, überall den mo¬
ralischen Maßstab fest, den er bei den Thaten seiner eignen Zeit anwenden
würde, und der Abstand von zwei Jahrtausenden reicht keineswegs aus, um
den König Philipp wegen seiner strafbaren Unternehmungen gegen die Freiheit
und das Recht der Griechen zu entschuldigen. Wir sind im Gegentheil geneigt,


47*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0379" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/281530"/>
          <p xml:id="ID_1126" prev="#ID_1125" next="#ID_1127"> durch die Einwirkung der historisch-juristischen Kritik, theils durch die Philosophie<lb/>
der Geschichte Gesichtspunkte angeeignet, welche die natürliche, unbefangene<lb/>
Anschauung verwirren. Zwar wollen wir den Gewinn nach beiden Seiten<lb/>
nicht gering anschlagen, denn wir haben sowol von den Juristen als von den<lb/>
Philosophen gelernt, daß uns in der Geschichte noch vieles Andere interessiren<lb/>
muß, als die hervorstechenden Thatsachen und Persönlichkeiten. Es ist dadurch<lb/>
Methode und Inhalt in unsre Studien gekommen und wenn es uns einmal<lb/>
gelingt, die Reflerion wieder zum Mittel herabzusetzen, so werden wir zur Ge¬<lb/>
schichtschreibung mehr als ein anderes Volk berufen sein. Allein vorläufig<lb/>
stehen wir?noch unter der Reflexion und es verwirrt unsre Darstellung um-<lb/>
somehr, da einseitige Gesichtspunkte sich hart aneinanderdrängen und bis<lb/>
jetzt umsonst nach der rechten Mitte suchen. Zuerst kam bei uns idie mytho¬<lb/>
logische Schule, die das specifisch griechische Wesen geringschätzte und eS gern<lb/>
in die Nacht der orientalischen Symbolik vertieft hätte, dann die historische<lb/>
von Ottfried Müller, der mit seinem conservativen Princip und seinem Natur¬<lb/>
wuchs wieder nach einer anderen Seite hin symbolisirte, endlich die Hegelsche<lb/>
Philosophie, die von ihrer Vogelperspektive aus sehr große und kühne Umrisse<lb/>
gewann, aber dafür das Einzelne auf eine gar zu leichtfertige Weise behandelte.<lb/>
So verwirren sich denn bei unsren Darstellungen die Principien aus das son¬<lb/>
derbarste. Die einen sehen in der ganzen griechischen Entwicklung den abge¬<lb/>
schwächten Ausfluß einer früheren, höheren und reineren Bildung, die anderen,<lb/>
wie Ottfried Müller und seine Schule, stellen die naturwüchsige d. h. pedantische<lb/>
und einseitige Entwicklung des dorischen Stammes, von dem man früher und<lb/>
zwar ganz mit Recht nur die Heldenthaten der Thermopylen beachtungs¬<lb/>
werth gesunden hatte, als die reinste Entfaltung des griechischen Wesens dar<lb/>
und würden die Demagogen und Philosophen von Athen gern aus der Ge¬<lb/>
schichte entfernen; die Hegelianer endlich erblicken in der griechischen Cultur<lb/>
nur ein leuchtendes Meteor, welches wesentlich keine andere Bestimmung gehabt<lb/>
habe, als unsrer Zeit als poetisches Ideal überliefert zu werden, während es<lb/>
in der Wirklichkeit seinem Verhängnis) zuerst in der macedonischen, dann in<lb/>
der römischen Knechtschaft anheimfallen mußte. &#x2014; Diese Weise der Betrach¬<lb/>
tungen ist mehr oder weniger jedem unter uns geläufig, der die gewöhnliche<lb/>
Bildungsschule durchgemacht hat, und so erregt uns denn Grotes naive und<lb/>
treuherzige Darstellung, so naturgemäß sie ist, aus den ersten Anblick ein ge¬<lb/>
wisses Befremden. Grote hält in dem richtigen Gefühl, daß der Kern der<lb/>
Sittlichkeit in allen Verwandlungen der Form derselbe bleibt, überall den mo¬<lb/>
ralischen Maßstab fest, den er bei den Thaten seiner eignen Zeit anwenden<lb/>
würde, und der Abstand von zwei Jahrtausenden reicht keineswegs aus, um<lb/>
den König Philipp wegen seiner strafbaren Unternehmungen gegen die Freiheit<lb/>
und das Recht der Griechen zu entschuldigen. Wir sind im Gegentheil geneigt,</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 47*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0379] durch die Einwirkung der historisch-juristischen Kritik, theils durch die Philosophie der Geschichte Gesichtspunkte angeeignet, welche die natürliche, unbefangene Anschauung verwirren. Zwar wollen wir den Gewinn nach beiden Seiten nicht gering anschlagen, denn wir haben sowol von den Juristen als von den Philosophen gelernt, daß uns in der Geschichte noch vieles Andere interessiren muß, als die hervorstechenden Thatsachen und Persönlichkeiten. Es ist dadurch Methode und Inhalt in unsre Studien gekommen und wenn es uns einmal gelingt, die Reflerion wieder zum Mittel herabzusetzen, so werden wir zur Ge¬ schichtschreibung mehr als ein anderes Volk berufen sein. Allein vorläufig stehen wir?noch unter der Reflexion und es verwirrt unsre Darstellung um- somehr, da einseitige Gesichtspunkte sich hart aneinanderdrängen und bis jetzt umsonst nach der rechten Mitte suchen. Zuerst kam bei uns idie mytho¬ logische Schule, die das specifisch griechische Wesen geringschätzte und eS gern in die Nacht der orientalischen Symbolik vertieft hätte, dann die historische von Ottfried Müller, der mit seinem conservativen Princip und seinem Natur¬ wuchs wieder nach einer anderen Seite hin symbolisirte, endlich die Hegelsche Philosophie, die von ihrer Vogelperspektive aus sehr große und kühne Umrisse gewann, aber dafür das Einzelne auf eine gar zu leichtfertige Weise behandelte. So verwirren sich denn bei unsren Darstellungen die Principien aus das son¬ derbarste. Die einen sehen in der ganzen griechischen Entwicklung den abge¬ schwächten Ausfluß einer früheren, höheren und reineren Bildung, die anderen, wie Ottfried Müller und seine Schule, stellen die naturwüchsige d. h. pedantische und einseitige Entwicklung des dorischen Stammes, von dem man früher und zwar ganz mit Recht nur die Heldenthaten der Thermopylen beachtungs¬ werth gesunden hatte, als die reinste Entfaltung des griechischen Wesens dar und würden die Demagogen und Philosophen von Athen gern aus der Ge¬ schichte entfernen; die Hegelianer endlich erblicken in der griechischen Cultur nur ein leuchtendes Meteor, welches wesentlich keine andere Bestimmung gehabt habe, als unsrer Zeit als poetisches Ideal überliefert zu werden, während es in der Wirklichkeit seinem Verhängnis) zuerst in der macedonischen, dann in der römischen Knechtschaft anheimfallen mußte. — Diese Weise der Betrach¬ tungen ist mehr oder weniger jedem unter uns geläufig, der die gewöhnliche Bildungsschule durchgemacht hat, und so erregt uns denn Grotes naive und treuherzige Darstellung, so naturgemäß sie ist, aus den ersten Anblick ein ge¬ wisses Befremden. Grote hält in dem richtigen Gefühl, daß der Kern der Sittlichkeit in allen Verwandlungen der Form derselbe bleibt, überall den mo¬ ralischen Maßstab fest, den er bei den Thaten seiner eignen Zeit anwenden würde, und der Abstand von zwei Jahrtausenden reicht keineswegs aus, um den König Philipp wegen seiner strafbaren Unternehmungen gegen die Freiheit und das Recht der Griechen zu entschuldigen. Wir sind im Gegentheil geneigt, 47*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/379
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/379>, abgerufen am 06.10.2024.