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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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sah mit einer Ergebung, die an Gleichgiltigkeit grenzte, dem Einsturz aller
Formen zu, die er eigentlich niemals lebendig empfunden hatte. Nirgend
tritt uns diese Trennung von dem allgemeinen Leben so traurig vor die Augen,
als in den Wahlverwandtschaften; und wenn Heinrich Leo in seiner Universal¬
geschichte behauptet: "in der Hauptsache steht alles genau und in demselben
Verhältnisse, wie unter Tiberius in Rom; denn für alle Verwicklungen des
Lebens gibt es nur den Tod oder die Resignation altkluger Verständigkeit;"
-- so sind das zwar sehr harte Worte, aber sie sind vollkommen wahr. Nur
hat Leo unrecht, dem ganzen Zeitalter diese Schuld aufzubürden. -- Man
mißverstehe uns nicht so, als ob wir nur eine Lücke in dem Gemälde fanden,
es ist vielmehr der innerste Kern des Lebens in allen Charakteren von diesem
Gift frommer ästhetischer Selbstsucht angefressen. Goethe hat selbst mit vollem
Recht gesagt, daß ein Charakter sich im Strom der Welt bilde, d. h. in der
Theilnahme und Hingebung an daS allgemeine Leben. Die Charaktere in
den Wahlverwandtschaften aber haben diese Bildung nie durchgemacht; sie
denken nur daran, sich auf eine so anmuthige und nützliche Weise als möglich
die Zeit zu vertreiben: sie mit Ewigen zu erfüllen, ist ihnen nie in den Sinn
gekommen, und daher kommt es, daß sie in ihrer Leidenschaft wie in ihrer
Entsagung gleich kraftlos sind, 5aß jedes Lebensmotiv, welches nicht etwa aus
einem bloßen Naturproceß hervorgeht, in Reflexionen zerbröckelt. Daher kommt
es, daß zum Schluß mit der Religion ein fast freventliches Spiel getrieben
wird. Die Buße Ottiliens, ihr Tod, die Wunder, die ihre Gebeine thun,
die Flittern, mit denen man sie ausputzt, klingen ganz katholisch, wenn auch
die Kirche gegen eine solche Kanonisation des Individuellsten und Subjectivste"
einen lebhaften Protest erheben würde. -- Es war der ästhetischen Bildung,
die in unsrer Dichtung des vorigen Jahrhunderts herrschte, und die auf die
griechische Weltanschauung begründet war, in ihrem einseitigen Streben nicht
gelungen, der Sittlichkeit ein neues, haltbares Princip zu finden; und darum
mußte sie untergehen, um viel unschöneren, aber tiefer in das Leben ein¬
greifenden Bildungsformen Platz zu machen, wie ja auch das jugendlich heitere
Götterlebcn in der Gricchenwelt untergehen mußte, um den finsteren, aber
lebenskräftigen Gebilden des absoluten Staats und der absoluten Religion freien
Spielraum zu gewähren. --

Der Kongreß zu Wien. Historischer Renan von Eduard Breicr. /t Bände-
Wien, Jaspcr u. Hügel. ---

In den Wiener Kongreß drängte sich bekanntlich nicht allein die ganze
Blüte der vornehmen Welt Europas zusammen, sondern auch eine Masse wun¬
derlicher Originale, die auf irgendeine Weise diese bewegte Zeit zu ihrem Vor¬
theil auszubeuten hofften. Der Verfasser hat nun vielfältige Studien enge-


sah mit einer Ergebung, die an Gleichgiltigkeit grenzte, dem Einsturz aller
Formen zu, die er eigentlich niemals lebendig empfunden hatte. Nirgend
tritt uns diese Trennung von dem allgemeinen Leben so traurig vor die Augen,
als in den Wahlverwandtschaften; und wenn Heinrich Leo in seiner Universal¬
geschichte behauptet: „in der Hauptsache steht alles genau und in demselben
Verhältnisse, wie unter Tiberius in Rom; denn für alle Verwicklungen des
Lebens gibt es nur den Tod oder die Resignation altkluger Verständigkeit;"
— so sind das zwar sehr harte Worte, aber sie sind vollkommen wahr. Nur
hat Leo unrecht, dem ganzen Zeitalter diese Schuld aufzubürden. — Man
mißverstehe uns nicht so, als ob wir nur eine Lücke in dem Gemälde fanden,
es ist vielmehr der innerste Kern des Lebens in allen Charakteren von diesem
Gift frommer ästhetischer Selbstsucht angefressen. Goethe hat selbst mit vollem
Recht gesagt, daß ein Charakter sich im Strom der Welt bilde, d. h. in der
Theilnahme und Hingebung an daS allgemeine Leben. Die Charaktere in
den Wahlverwandtschaften aber haben diese Bildung nie durchgemacht; sie
denken nur daran, sich auf eine so anmuthige und nützliche Weise als möglich
die Zeit zu vertreiben: sie mit Ewigen zu erfüllen, ist ihnen nie in den Sinn
gekommen, und daher kommt es, daß sie in ihrer Leidenschaft wie in ihrer
Entsagung gleich kraftlos sind, 5aß jedes Lebensmotiv, welches nicht etwa aus
einem bloßen Naturproceß hervorgeht, in Reflexionen zerbröckelt. Daher kommt
es, daß zum Schluß mit der Religion ein fast freventliches Spiel getrieben
wird. Die Buße Ottiliens, ihr Tod, die Wunder, die ihre Gebeine thun,
die Flittern, mit denen man sie ausputzt, klingen ganz katholisch, wenn auch
die Kirche gegen eine solche Kanonisation des Individuellsten und Subjectivste»
einen lebhaften Protest erheben würde. — Es war der ästhetischen Bildung,
die in unsrer Dichtung des vorigen Jahrhunderts herrschte, und die auf die
griechische Weltanschauung begründet war, in ihrem einseitigen Streben nicht
gelungen, der Sittlichkeit ein neues, haltbares Princip zu finden; und darum
mußte sie untergehen, um viel unschöneren, aber tiefer in das Leben ein¬
greifenden Bildungsformen Platz zu machen, wie ja auch das jugendlich heitere
Götterlebcn in der Gricchenwelt untergehen mußte, um den finsteren, aber
lebenskräftigen Gebilden des absoluten Staats und der absoluten Religion freien
Spielraum zu gewähren. —

Der Kongreß zu Wien. Historischer Renan von Eduard Breicr. /t Bände-
Wien, Jaspcr u. Hügel. -—

In den Wiener Kongreß drängte sich bekanntlich nicht allein die ganze
Blüte der vornehmen Welt Europas zusammen, sondern auch eine Masse wun¬
derlicher Originale, die auf irgendeine Weise diese bewegte Zeit zu ihrem Vor¬
theil auszubeuten hofften. Der Verfasser hat nun vielfältige Studien enge-


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[0346] sah mit einer Ergebung, die an Gleichgiltigkeit grenzte, dem Einsturz aller Formen zu, die er eigentlich niemals lebendig empfunden hatte. Nirgend tritt uns diese Trennung von dem allgemeinen Leben so traurig vor die Augen, als in den Wahlverwandtschaften; und wenn Heinrich Leo in seiner Universal¬ geschichte behauptet: „in der Hauptsache steht alles genau und in demselben Verhältnisse, wie unter Tiberius in Rom; denn für alle Verwicklungen des Lebens gibt es nur den Tod oder die Resignation altkluger Verständigkeit;" — so sind das zwar sehr harte Worte, aber sie sind vollkommen wahr. Nur hat Leo unrecht, dem ganzen Zeitalter diese Schuld aufzubürden. — Man mißverstehe uns nicht so, als ob wir nur eine Lücke in dem Gemälde fanden, es ist vielmehr der innerste Kern des Lebens in allen Charakteren von diesem Gift frommer ästhetischer Selbstsucht angefressen. Goethe hat selbst mit vollem Recht gesagt, daß ein Charakter sich im Strom der Welt bilde, d. h. in der Theilnahme und Hingebung an daS allgemeine Leben. Die Charaktere in den Wahlverwandtschaften aber haben diese Bildung nie durchgemacht; sie denken nur daran, sich auf eine so anmuthige und nützliche Weise als möglich die Zeit zu vertreiben: sie mit Ewigen zu erfüllen, ist ihnen nie in den Sinn gekommen, und daher kommt es, daß sie in ihrer Leidenschaft wie in ihrer Entsagung gleich kraftlos sind, 5aß jedes Lebensmotiv, welches nicht etwa aus einem bloßen Naturproceß hervorgeht, in Reflexionen zerbröckelt. Daher kommt es, daß zum Schluß mit der Religion ein fast freventliches Spiel getrieben wird. Die Buße Ottiliens, ihr Tod, die Wunder, die ihre Gebeine thun, die Flittern, mit denen man sie ausputzt, klingen ganz katholisch, wenn auch die Kirche gegen eine solche Kanonisation des Individuellsten und Subjectivste» einen lebhaften Protest erheben würde. — Es war der ästhetischen Bildung, die in unsrer Dichtung des vorigen Jahrhunderts herrschte, und die auf die griechische Weltanschauung begründet war, in ihrem einseitigen Streben nicht gelungen, der Sittlichkeit ein neues, haltbares Princip zu finden; und darum mußte sie untergehen, um viel unschöneren, aber tiefer in das Leben ein¬ greifenden Bildungsformen Platz zu machen, wie ja auch das jugendlich heitere Götterlebcn in der Gricchenwelt untergehen mußte, um den finsteren, aber lebenskräftigen Gebilden des absoluten Staats und der absoluten Religion freien Spielraum zu gewähren. — Der Kongreß zu Wien. Historischer Renan von Eduard Breicr. /t Bände- Wien, Jaspcr u. Hügel. -— In den Wiener Kongreß drängte sich bekanntlich nicht allein die ganze Blüte der vornehmen Welt Europas zusammen, sondern auch eine Masse wun¬ derlicher Originale, die auf irgendeine Weise diese bewegte Zeit zu ihrem Vor¬ theil auszubeuten hofften. Der Verfasser hat nun vielfältige Studien enge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/346>, abgerufen am 09.11.2024.