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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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alles, was damit zusammenhing, war in Verachtung; die Lebenskunst ging nur
auf das Privatleben; man strebte nach universeller Bildung und cinco günstigen,
heitern und gesicherten Existenz in den Privatverhältnissen, wobei freilich der
Staat als eine Polizeianstalt unentbehrlich war. Wer sich der Religion hingab,
that es auf ästhetisch-pietistische Weise, wie die schöne Seele. Eine Gemein¬
schaft der Kirche gab es sowenig, wie eine Gemeinschaft des Staats; das
öffentliche Unglück suchte man so leicht als möglich zu ertragen, oder man
fühlte es vielmehr gar nicht, sofern es nicht störend in die bequeme Behaglichkeit
des Privatlebens eingriff. -- Nun war aber zwischen der Zeit, wo der Wil¬
helm Meister erschien, und den Wahlverwandtschaften (1809) ein großer
Umschwung in der Gesinnung Deutschlands eingetreten, ein furchtbares
Unglück, eine entsetzliche Schmach hatte sich über Deutschland ausgebreitet
und das Gefühl derselben zitterte in jedem Herzen nach. Das Leiden war
eine wohlthätige Schule, denn es zeigte dem deutschen Volk, was es in frevent¬
lichen Leichtsinn verschmäht hatte. -- Von diesem Gefühl ist in den Wahl¬
verwandtschaften keine Spur. Die Atmosphäre ist noch ganz die alte, sämmt¬
liche Personen, die darin auftreten, jagen mit einer gewissen ängstlichen Hast
dem individuellen Glücke nach, ohne irgend eine Ahnung, daß sie Glieder eines
größern Ganzen sind. Als Eduard in seiner.Verzweiflung an einem Kriege
theilnimmt, um entweder zu sterben oder sich das Recht zu erkaufen, seiner un¬
gezügelten Leidenschaft nachzugehen, ist es ein beliebiger Krieg ohne weiteren
Inhalt. Er macht eS grade in der Weise, wie die Hofleute unter Ludwig XIV.,
die, wenn sie einmal der Jagd und der Liebe müde waren, sich zum Heer an
dem Rheine begaben, um eine neue Art der Lust kennen zu lernen. -- Und
hier kommen wir auf einen Punkt, den man mit einer gewissen Vorsicht be¬
handeln muß, weil er leicht mißverstanden werden kann. Es ist Goethe häusig
vorgeworfen worden, daß er an der großen Erhebung Deutschlands keinen Antheil
"ahn, und die ungeschickte Art, mit der das gewöhnlich geschah, hat seinen Ver¬
ehrern das Spiel leicht gemacht. Sie haben gefragt, was er denn hätte thun
^lieu, und haben nachgewiesen, daß seine Stellung ihm die Möglichkeit jedes
Galanten Schrittes abschnitt. Aber davon ist auch gar nicht die Rede. Es
handelt sich nicht darum, was Goethe that, sondern was er empfand. Wo das
Mißgeschick Deutschlands in sein Privatleben eingriff, z. B. als der Herzog
^n Weimar bedroht wurde, sein Land zu verlieren, erhob er sich zu einer
schönen und edlen Warme. Wo er über Einzelheiten der öffentlichen Ver¬
hältnisse zu reflectiren Gelegenheit fand, war er stets geistvoll und bedeutend.
Aber seine persönliche Abneigung, irgend einen tragischen Eindruck mächtiger
"uf sich wirken zu lassen, und seine Philosophie, die in der Resignation die
höchste Weisheit des Lebens fand, isolirte sein Herz von dem öffentlichen Unglück.
Die Politik, wie alles Polemische, war ihm nach wie vor verhaßt, und er


Greuzbvte". 111. 43

alles, was damit zusammenhing, war in Verachtung; die Lebenskunst ging nur
auf das Privatleben; man strebte nach universeller Bildung und cinco günstigen,
heitern und gesicherten Existenz in den Privatverhältnissen, wobei freilich der
Staat als eine Polizeianstalt unentbehrlich war. Wer sich der Religion hingab,
that es auf ästhetisch-pietistische Weise, wie die schöne Seele. Eine Gemein¬
schaft der Kirche gab es sowenig, wie eine Gemeinschaft des Staats; das
öffentliche Unglück suchte man so leicht als möglich zu ertragen, oder man
fühlte es vielmehr gar nicht, sofern es nicht störend in die bequeme Behaglichkeit
des Privatlebens eingriff. — Nun war aber zwischen der Zeit, wo der Wil¬
helm Meister erschien, und den Wahlverwandtschaften (1809) ein großer
Umschwung in der Gesinnung Deutschlands eingetreten, ein furchtbares
Unglück, eine entsetzliche Schmach hatte sich über Deutschland ausgebreitet
und das Gefühl derselben zitterte in jedem Herzen nach. Das Leiden war
eine wohlthätige Schule, denn es zeigte dem deutschen Volk, was es in frevent¬
lichen Leichtsinn verschmäht hatte. — Von diesem Gefühl ist in den Wahl¬
verwandtschaften keine Spur. Die Atmosphäre ist noch ganz die alte, sämmt¬
liche Personen, die darin auftreten, jagen mit einer gewissen ängstlichen Hast
dem individuellen Glücke nach, ohne irgend eine Ahnung, daß sie Glieder eines
größern Ganzen sind. Als Eduard in seiner.Verzweiflung an einem Kriege
theilnimmt, um entweder zu sterben oder sich das Recht zu erkaufen, seiner un¬
gezügelten Leidenschaft nachzugehen, ist es ein beliebiger Krieg ohne weiteren
Inhalt. Er macht eS grade in der Weise, wie die Hofleute unter Ludwig XIV.,
die, wenn sie einmal der Jagd und der Liebe müde waren, sich zum Heer an
dem Rheine begaben, um eine neue Art der Lust kennen zu lernen. — Und
hier kommen wir auf einen Punkt, den man mit einer gewissen Vorsicht be¬
handeln muß, weil er leicht mißverstanden werden kann. Es ist Goethe häusig
vorgeworfen worden, daß er an der großen Erhebung Deutschlands keinen Antheil
"ahn, und die ungeschickte Art, mit der das gewöhnlich geschah, hat seinen Ver¬
ehrern das Spiel leicht gemacht. Sie haben gefragt, was er denn hätte thun
^lieu, und haben nachgewiesen, daß seine Stellung ihm die Möglichkeit jedes
Galanten Schrittes abschnitt. Aber davon ist auch gar nicht die Rede. Es
handelt sich nicht darum, was Goethe that, sondern was er empfand. Wo das
Mißgeschick Deutschlands in sein Privatleben eingriff, z. B. als der Herzog
^n Weimar bedroht wurde, sein Land zu verlieren, erhob er sich zu einer
schönen und edlen Warme. Wo er über Einzelheiten der öffentlichen Ver¬
hältnisse zu reflectiren Gelegenheit fand, war er stets geistvoll und bedeutend.
Aber seine persönliche Abneigung, irgend einen tragischen Eindruck mächtiger
"uf sich wirken zu lassen, und seine Philosophie, die in der Resignation die
höchste Weisheit des Lebens fand, isolirte sein Herz von dem öffentlichen Unglück.
Die Politik, wie alles Polemische, war ihm nach wie vor verhaßt, und er


Greuzbvte». 111. 43
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[0345] alles, was damit zusammenhing, war in Verachtung; die Lebenskunst ging nur auf das Privatleben; man strebte nach universeller Bildung und cinco günstigen, heitern und gesicherten Existenz in den Privatverhältnissen, wobei freilich der Staat als eine Polizeianstalt unentbehrlich war. Wer sich der Religion hingab, that es auf ästhetisch-pietistische Weise, wie die schöne Seele. Eine Gemein¬ schaft der Kirche gab es sowenig, wie eine Gemeinschaft des Staats; das öffentliche Unglück suchte man so leicht als möglich zu ertragen, oder man fühlte es vielmehr gar nicht, sofern es nicht störend in die bequeme Behaglichkeit des Privatlebens eingriff. — Nun war aber zwischen der Zeit, wo der Wil¬ helm Meister erschien, und den Wahlverwandtschaften (1809) ein großer Umschwung in der Gesinnung Deutschlands eingetreten, ein furchtbares Unglück, eine entsetzliche Schmach hatte sich über Deutschland ausgebreitet und das Gefühl derselben zitterte in jedem Herzen nach. Das Leiden war eine wohlthätige Schule, denn es zeigte dem deutschen Volk, was es in frevent¬ lichen Leichtsinn verschmäht hatte. — Von diesem Gefühl ist in den Wahl¬ verwandtschaften keine Spur. Die Atmosphäre ist noch ganz die alte, sämmt¬ liche Personen, die darin auftreten, jagen mit einer gewissen ängstlichen Hast dem individuellen Glücke nach, ohne irgend eine Ahnung, daß sie Glieder eines größern Ganzen sind. Als Eduard in seiner.Verzweiflung an einem Kriege theilnimmt, um entweder zu sterben oder sich das Recht zu erkaufen, seiner un¬ gezügelten Leidenschaft nachzugehen, ist es ein beliebiger Krieg ohne weiteren Inhalt. Er macht eS grade in der Weise, wie die Hofleute unter Ludwig XIV., die, wenn sie einmal der Jagd und der Liebe müde waren, sich zum Heer an dem Rheine begaben, um eine neue Art der Lust kennen zu lernen. — Und hier kommen wir auf einen Punkt, den man mit einer gewissen Vorsicht be¬ handeln muß, weil er leicht mißverstanden werden kann. Es ist Goethe häusig vorgeworfen worden, daß er an der großen Erhebung Deutschlands keinen Antheil "ahn, und die ungeschickte Art, mit der das gewöhnlich geschah, hat seinen Ver¬ ehrern das Spiel leicht gemacht. Sie haben gefragt, was er denn hätte thun ^lieu, und haben nachgewiesen, daß seine Stellung ihm die Möglichkeit jedes Galanten Schrittes abschnitt. Aber davon ist auch gar nicht die Rede. Es handelt sich nicht darum, was Goethe that, sondern was er empfand. Wo das Mißgeschick Deutschlands in sein Privatleben eingriff, z. B. als der Herzog ^n Weimar bedroht wurde, sein Land zu verlieren, erhob er sich zu einer schönen und edlen Warme. Wo er über Einzelheiten der öffentlichen Ver¬ hältnisse zu reflectiren Gelegenheit fand, war er stets geistvoll und bedeutend. Aber seine persönliche Abneigung, irgend einen tragischen Eindruck mächtiger "uf sich wirken zu lassen, und seine Philosophie, die in der Resignation die höchste Weisheit des Lebens fand, isolirte sein Herz von dem öffentlichen Unglück. Die Politik, wie alles Polemische, war ihm nach wie vor verhaßt, und er Greuzbvte». 111. 43

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/345>, abgerufen am 09.11.2024.