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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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uns denn dies Mal die Reihe der neuen Romane durch Besprechungen eines
sehr alten Romans zu eröffnen, von dem wir "hoffen, einige Gesichtspunkte
hervorheben zu können, die bisher noch nicht angeregt sind. Dieser alte
Roman ist: Goethes Wahlverwandtschaften.

Die Wahlverwandtschaften sind in der Form eines der vollendetsten Werke,
welche die deutsche Poesie hervorgebracht hat. Eine Fülle der zartesten und
tiefsten Gedanken drängt sich uns zum Theil unter muthwilligen Verkleidungen
entgegen; die farbenreichsten Bilder verknüpfen sich in anmuthiger Gruppirung.
In einem engen, aber schönen Nahmen rundet sich das Gemälde zu einem
harmonischen Ganzen ab, und gleichsam spielend führt uns der Dichter in die
Geheimnisse der Seele ein. Er scheint unser Gemüth nur auf der Oberfläche
zu berühren und unsre Einbildungskraft lediglich auf die Aeußerlichkeiten hin¬
zulenken, und doch wird unser Inneres umstrickt, ja wie von einer magischen
Kraft besangen. -- Für die meisten Dichtungen Goethes ist es ein Uebelstand
gewesen, daß Anlage und Ausführung so sehr weit auseinanderlag: die Wahl¬
verwandtschaften gehören zu den wenigen, die im raschen Flusse geschrieben
wurden; sie zeigen daher in der Composition eine Vereinigung von Kunst und
Natur, die wir im Faust und im Meister schmerzlich vermissen. -- Freilich be¬
zieht sich das Lob, das wir der Composition ertheilen müssen, nicht auf das
Ganze. In den beiden Theilen ist ein sehr merklicher Unterschied, ein Unter¬
schied, den wir im geringern Grade in sämmtlichen Werken Goethes wieder
antreffen. Goethe hat ein wunderbares Auge für die feinsten Züge der gegen¬
ständlichen Welt und ein Gemüth, das in schnellen und schönen Schwingungen
augenblickliche den Ton, der ihm entgegenklingt, zu einer ahnungsvollen Har¬
monie erweitert. Aber es fehlt ihm jene Entschlossenheit des Geistes, welche alle
die unaufgelösten und unentwickelten Tonfolgen der Natur mit Freiheit und
Nothwendigkeit zu einem überwältigenden Schluß verkettet. Darum ist überall
bei ihm die ErPosition vortrefflicher als die Katastrophe. Mit seinem seinen
Spürsinn für das Schöne und Große des Lebens versteht er auf das vor¬
trefflichste Verhältnisse einzuleiten, Zustände auseinanderzusetzen, Probleme zu
stellen, Wünsche und Hoffnungen zu erregen; aber er lebt nur in diesen Stim¬
men der Natur, sein Geist hat nicht die Freiheit, siegreich über die Widersprüche
dieser Welt zu gebieten und die zerstreuten Funken zu einem elektrischen Schlage
"u sammeln, der uns läutert, indem er uns zu vernichten scheint. Nirgend
springt uns dies Mißverhältniß so in die Augen, als in den Wahlverwandt¬
schaften, wo die beiden Theile auch äußerlich durch einen sehr auffallenden
Strich voneinander getrennt sind. Die Composition des ersten Theils können
wir nie genug bewundern. Die Kunst, mit welcher der Dichter theils die sinn¬
liche Gegend, in der sich die Geschichte bewegen soll, vor unsren Augen ent¬
stehen läßt, so daß wir sie uns nicht beschreiben lassen, sondern daß wir sie


Grenzbvieu. llQ itilli,,

uns denn dies Mal die Reihe der neuen Romane durch Besprechungen eines
sehr alten Romans zu eröffnen, von dem wir "hoffen, einige Gesichtspunkte
hervorheben zu können, die bisher noch nicht angeregt sind. Dieser alte
Roman ist: Goethes Wahlverwandtschaften.

Die Wahlverwandtschaften sind in der Form eines der vollendetsten Werke,
welche die deutsche Poesie hervorgebracht hat. Eine Fülle der zartesten und
tiefsten Gedanken drängt sich uns zum Theil unter muthwilligen Verkleidungen
entgegen; die farbenreichsten Bilder verknüpfen sich in anmuthiger Gruppirung.
In einem engen, aber schönen Nahmen rundet sich das Gemälde zu einem
harmonischen Ganzen ab, und gleichsam spielend führt uns der Dichter in die
Geheimnisse der Seele ein. Er scheint unser Gemüth nur auf der Oberfläche
zu berühren und unsre Einbildungskraft lediglich auf die Aeußerlichkeiten hin¬
zulenken, und doch wird unser Inneres umstrickt, ja wie von einer magischen
Kraft besangen. — Für die meisten Dichtungen Goethes ist es ein Uebelstand
gewesen, daß Anlage und Ausführung so sehr weit auseinanderlag: die Wahl¬
verwandtschaften gehören zu den wenigen, die im raschen Flusse geschrieben
wurden; sie zeigen daher in der Composition eine Vereinigung von Kunst und
Natur, die wir im Faust und im Meister schmerzlich vermissen. — Freilich be¬
zieht sich das Lob, das wir der Composition ertheilen müssen, nicht auf das
Ganze. In den beiden Theilen ist ein sehr merklicher Unterschied, ein Unter¬
schied, den wir im geringern Grade in sämmtlichen Werken Goethes wieder
antreffen. Goethe hat ein wunderbares Auge für die feinsten Züge der gegen¬
ständlichen Welt und ein Gemüth, das in schnellen und schönen Schwingungen
augenblickliche den Ton, der ihm entgegenklingt, zu einer ahnungsvollen Har¬
monie erweitert. Aber es fehlt ihm jene Entschlossenheit des Geistes, welche alle
die unaufgelösten und unentwickelten Tonfolgen der Natur mit Freiheit und
Nothwendigkeit zu einem überwältigenden Schluß verkettet. Darum ist überall
bei ihm die ErPosition vortrefflicher als die Katastrophe. Mit seinem seinen
Spürsinn für das Schöne und Große des Lebens versteht er auf das vor¬
trefflichste Verhältnisse einzuleiten, Zustände auseinanderzusetzen, Probleme zu
stellen, Wünsche und Hoffnungen zu erregen; aber er lebt nur in diesen Stim¬
men der Natur, sein Geist hat nicht die Freiheit, siegreich über die Widersprüche
dieser Welt zu gebieten und die zerstreuten Funken zu einem elektrischen Schlage
«u sammeln, der uns läutert, indem er uns zu vernichten scheint. Nirgend
springt uns dies Mißverhältniß so in die Augen, als in den Wahlverwandt¬
schaften, wo die beiden Theile auch äußerlich durch einen sehr auffallenden
Strich voneinander getrennt sind. Die Composition des ersten Theils können
wir nie genug bewundern. Die Kunst, mit welcher der Dichter theils die sinn¬
liche Gegend, in der sich die Geschichte bewegen soll, vor unsren Augen ent¬
stehen läßt, so daß wir sie uns nicht beschreiben lassen, sondern daß wir sie


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[0337] uns denn dies Mal die Reihe der neuen Romane durch Besprechungen eines sehr alten Romans zu eröffnen, von dem wir "hoffen, einige Gesichtspunkte hervorheben zu können, die bisher noch nicht angeregt sind. Dieser alte Roman ist: Goethes Wahlverwandtschaften. Die Wahlverwandtschaften sind in der Form eines der vollendetsten Werke, welche die deutsche Poesie hervorgebracht hat. Eine Fülle der zartesten und tiefsten Gedanken drängt sich uns zum Theil unter muthwilligen Verkleidungen entgegen; die farbenreichsten Bilder verknüpfen sich in anmuthiger Gruppirung. In einem engen, aber schönen Nahmen rundet sich das Gemälde zu einem harmonischen Ganzen ab, und gleichsam spielend führt uns der Dichter in die Geheimnisse der Seele ein. Er scheint unser Gemüth nur auf der Oberfläche zu berühren und unsre Einbildungskraft lediglich auf die Aeußerlichkeiten hin¬ zulenken, und doch wird unser Inneres umstrickt, ja wie von einer magischen Kraft besangen. — Für die meisten Dichtungen Goethes ist es ein Uebelstand gewesen, daß Anlage und Ausführung so sehr weit auseinanderlag: die Wahl¬ verwandtschaften gehören zu den wenigen, die im raschen Flusse geschrieben wurden; sie zeigen daher in der Composition eine Vereinigung von Kunst und Natur, die wir im Faust und im Meister schmerzlich vermissen. — Freilich be¬ zieht sich das Lob, das wir der Composition ertheilen müssen, nicht auf das Ganze. In den beiden Theilen ist ein sehr merklicher Unterschied, ein Unter¬ schied, den wir im geringern Grade in sämmtlichen Werken Goethes wieder antreffen. Goethe hat ein wunderbares Auge für die feinsten Züge der gegen¬ ständlichen Welt und ein Gemüth, das in schnellen und schönen Schwingungen augenblickliche den Ton, der ihm entgegenklingt, zu einer ahnungsvollen Har¬ monie erweitert. Aber es fehlt ihm jene Entschlossenheit des Geistes, welche alle die unaufgelösten und unentwickelten Tonfolgen der Natur mit Freiheit und Nothwendigkeit zu einem überwältigenden Schluß verkettet. Darum ist überall bei ihm die ErPosition vortrefflicher als die Katastrophe. Mit seinem seinen Spürsinn für das Schöne und Große des Lebens versteht er auf das vor¬ trefflichste Verhältnisse einzuleiten, Zustände auseinanderzusetzen, Probleme zu stellen, Wünsche und Hoffnungen zu erregen; aber er lebt nur in diesen Stim¬ men der Natur, sein Geist hat nicht die Freiheit, siegreich über die Widersprüche dieser Welt zu gebieten und die zerstreuten Funken zu einem elektrischen Schlage «u sammeln, der uns läutert, indem er uns zu vernichten scheint. Nirgend springt uns dies Mißverhältniß so in die Augen, als in den Wahlverwandt¬ schaften, wo die beiden Theile auch äußerlich durch einen sehr auffallenden Strich voneinander getrennt sind. Die Composition des ersten Theils können wir nie genug bewundern. Die Kunst, mit welcher der Dichter theils die sinn¬ liche Gegend, in der sich die Geschichte bewegen soll, vor unsren Augen ent¬ stehen läßt, so daß wir sie uns nicht beschreiben lassen, sondern daß wir sie Grenzbvieu. llQ itilli,,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/337>, abgerufen am 09.11.2024.