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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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Opposition machen mußte, lag in der Abweichung ihrer im übrigen so nahe¬
liegenden Principien. Zwar drohte das bei dem weichen, empfindsamen Cha¬
rakter Reinholds eine Störung in ihren persönlichen Verhältnissen herbeizu¬
führen, allein die Beziehungen wurden immer, zuweilen auf eine etwas burlesk
sentimentale Weise wiederhergestellt. Reinhold hatte schon damals, obgleich er
sich in die neuen Ideen seines jüngern Mitbewerbers nicht finden konnte, das
dunkle Gefühl, daß er es mit einem überlegeneren Geiste zu thun habe, und
flehte gewissermaßen immer um Schonung.

Es ist hier der Ort, über die eigenthümliche Richtung dieser transscenden¬
talen Philosophie und über den Anstoß, den sie dem sogenannten gesunden
Menschenverstand gab, einige Bemerkungen zu machen. Die Philosophie vor
Kant hatte das Publicum in keiner Weise irritirt, weil sie sich ganz außerhalb
seines Kreises bewegte. Sie war entweder sogenannte Weltweisheit, d. h. sie
stellte die Ansichten der Philosophen über Gott, die Welt und andere Dinge
zusammen und überließ es dann dem Publicum, d.sehen Ansichten entweder bei¬
zupflichten oder sich nach Maßgabe derselben ähnliche Ansichten zu bilden; oder
sie war Metaphysik, d. h. sie bewegte sich im Reich der Schatten, in Formen
und Wendungen, die man völlig dahingestellt sein lassen konnte, weil sie das
gewöhnliche Denken und seinen Inhalt nicht berührten; oder endlich sie ordnete
als formale Logik die sogenannten Regeln des Denkens in ziemlich pedantischen
Formeln und durfte um so weniger angefochten werden, da sie es verschmähte,
dem Bewußtsein irgendeinen neuen Gehalt zuzuführen. Kant dagegen lenkte
die Philosophie auf einen Gegenstand, von dem alle Welt glaubte, sie besäße
ihn bereits, und machte ihr diesen Besitz streitig. Wenn man über die über¬
irdische Welt auch verschiedene Ansichten gehabt hatte, so war man darüber
doch vollkommen einig gewesen, daß man die wirkliche Welt in unmittelbarer
Gewißheit gegenwärtig habe. An der Realität der Tische, Stühle und andrer
Dinge zweifelte auch derjenige nicht, der die Existenz Gottes in Frage zu stellen
unternahm. Nun wies aber Kant nach, daß die unmittelbaren Organe unsrer
Wahrnehmung, die Sinne, uns nur ganz einfache Eindrücke überlieferten, Farben,
Töne, Stöße u. f. w., Eindrücke, die lediglich in unsrer Sinnlichkeit beruhten und
von denen wir erst durch einen ziemlich verwickelten Proceß des Denkens annähmen,
es entspräche diesen Eindrücken außer uns Etwas, ja, die verschiedenen Eindrücke
z. B. Worte, die wir hörten, Gesichter, die wir sähen, einen Stoß, den wir em¬
pfänden, rührten alle von einem und demselben Gegenstande her. Er wies nach,
daß die Begriffe Raum, Zeit, Ding, Kausalität u. s. w. keineswegs Objecte
unsrer unmittelbaren Wahrnehmung wären, sondern bloße Formen unsres Den¬
kens, in die wir uns die empfangenen Eindrücke unsrer Sinnlichkeit zurechtleg¬
ten. Diese über alle Anfechtung richtige Darstellung mußte aber aufs höchste
befremden, da man durch längere Gewohnheit das Bewußtsein jener Seelen-


Opposition machen mußte, lag in der Abweichung ihrer im übrigen so nahe¬
liegenden Principien. Zwar drohte das bei dem weichen, empfindsamen Cha¬
rakter Reinholds eine Störung in ihren persönlichen Verhältnissen herbeizu¬
führen, allein die Beziehungen wurden immer, zuweilen auf eine etwas burlesk
sentimentale Weise wiederhergestellt. Reinhold hatte schon damals, obgleich er
sich in die neuen Ideen seines jüngern Mitbewerbers nicht finden konnte, das
dunkle Gefühl, daß er es mit einem überlegeneren Geiste zu thun habe, und
flehte gewissermaßen immer um Schonung.

Es ist hier der Ort, über die eigenthümliche Richtung dieser transscenden¬
talen Philosophie und über den Anstoß, den sie dem sogenannten gesunden
Menschenverstand gab, einige Bemerkungen zu machen. Die Philosophie vor
Kant hatte das Publicum in keiner Weise irritirt, weil sie sich ganz außerhalb
seines Kreises bewegte. Sie war entweder sogenannte Weltweisheit, d. h. sie
stellte die Ansichten der Philosophen über Gott, die Welt und andere Dinge
zusammen und überließ es dann dem Publicum, d.sehen Ansichten entweder bei¬
zupflichten oder sich nach Maßgabe derselben ähnliche Ansichten zu bilden; oder
sie war Metaphysik, d. h. sie bewegte sich im Reich der Schatten, in Formen
und Wendungen, die man völlig dahingestellt sein lassen konnte, weil sie das
gewöhnliche Denken und seinen Inhalt nicht berührten; oder endlich sie ordnete
als formale Logik die sogenannten Regeln des Denkens in ziemlich pedantischen
Formeln und durfte um so weniger angefochten werden, da sie es verschmähte,
dem Bewußtsein irgendeinen neuen Gehalt zuzuführen. Kant dagegen lenkte
die Philosophie auf einen Gegenstand, von dem alle Welt glaubte, sie besäße
ihn bereits, und machte ihr diesen Besitz streitig. Wenn man über die über¬
irdische Welt auch verschiedene Ansichten gehabt hatte, so war man darüber
doch vollkommen einig gewesen, daß man die wirkliche Welt in unmittelbarer
Gewißheit gegenwärtig habe. An der Realität der Tische, Stühle und andrer
Dinge zweifelte auch derjenige nicht, der die Existenz Gottes in Frage zu stellen
unternahm. Nun wies aber Kant nach, daß die unmittelbaren Organe unsrer
Wahrnehmung, die Sinne, uns nur ganz einfache Eindrücke überlieferten, Farben,
Töne, Stöße u. f. w., Eindrücke, die lediglich in unsrer Sinnlichkeit beruhten und
von denen wir erst durch einen ziemlich verwickelten Proceß des Denkens annähmen,
es entspräche diesen Eindrücken außer uns Etwas, ja, die verschiedenen Eindrücke
z. B. Worte, die wir hörten, Gesichter, die wir sähen, einen Stoß, den wir em¬
pfänden, rührten alle von einem und demselben Gegenstande her. Er wies nach,
daß die Begriffe Raum, Zeit, Ding, Kausalität u. s. w. keineswegs Objecte
unsrer unmittelbaren Wahrnehmung wären, sondern bloße Formen unsres Den¬
kens, in die wir uns die empfangenen Eindrücke unsrer Sinnlichkeit zurechtleg¬
ten. Diese über alle Anfechtung richtige Darstellung mußte aber aufs höchste
befremden, da man durch längere Gewohnheit das Bewußtsein jener Seelen-


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[0256] Opposition machen mußte, lag in der Abweichung ihrer im übrigen so nahe¬ liegenden Principien. Zwar drohte das bei dem weichen, empfindsamen Cha¬ rakter Reinholds eine Störung in ihren persönlichen Verhältnissen herbeizu¬ führen, allein die Beziehungen wurden immer, zuweilen auf eine etwas burlesk sentimentale Weise wiederhergestellt. Reinhold hatte schon damals, obgleich er sich in die neuen Ideen seines jüngern Mitbewerbers nicht finden konnte, das dunkle Gefühl, daß er es mit einem überlegeneren Geiste zu thun habe, und flehte gewissermaßen immer um Schonung. Es ist hier der Ort, über die eigenthümliche Richtung dieser transscenden¬ talen Philosophie und über den Anstoß, den sie dem sogenannten gesunden Menschenverstand gab, einige Bemerkungen zu machen. Die Philosophie vor Kant hatte das Publicum in keiner Weise irritirt, weil sie sich ganz außerhalb seines Kreises bewegte. Sie war entweder sogenannte Weltweisheit, d. h. sie stellte die Ansichten der Philosophen über Gott, die Welt und andere Dinge zusammen und überließ es dann dem Publicum, d.sehen Ansichten entweder bei¬ zupflichten oder sich nach Maßgabe derselben ähnliche Ansichten zu bilden; oder sie war Metaphysik, d. h. sie bewegte sich im Reich der Schatten, in Formen und Wendungen, die man völlig dahingestellt sein lassen konnte, weil sie das gewöhnliche Denken und seinen Inhalt nicht berührten; oder endlich sie ordnete als formale Logik die sogenannten Regeln des Denkens in ziemlich pedantischen Formeln und durfte um so weniger angefochten werden, da sie es verschmähte, dem Bewußtsein irgendeinen neuen Gehalt zuzuführen. Kant dagegen lenkte die Philosophie auf einen Gegenstand, von dem alle Welt glaubte, sie besäße ihn bereits, und machte ihr diesen Besitz streitig. Wenn man über die über¬ irdische Welt auch verschiedene Ansichten gehabt hatte, so war man darüber doch vollkommen einig gewesen, daß man die wirkliche Welt in unmittelbarer Gewißheit gegenwärtig habe. An der Realität der Tische, Stühle und andrer Dinge zweifelte auch derjenige nicht, der die Existenz Gottes in Frage zu stellen unternahm. Nun wies aber Kant nach, daß die unmittelbaren Organe unsrer Wahrnehmung, die Sinne, uns nur ganz einfache Eindrücke überlieferten, Farben, Töne, Stöße u. f. w., Eindrücke, die lediglich in unsrer Sinnlichkeit beruhten und von denen wir erst durch einen ziemlich verwickelten Proceß des Denkens annähmen, es entspräche diesen Eindrücken außer uns Etwas, ja, die verschiedenen Eindrücke z. B. Worte, die wir hörten, Gesichter, die wir sähen, einen Stoß, den wir em¬ pfänden, rührten alle von einem und demselben Gegenstande her. Er wies nach, daß die Begriffe Raum, Zeit, Ding, Kausalität u. s. w. keineswegs Objecte unsrer unmittelbaren Wahrnehmung wären, sondern bloße Formen unsres Den¬ kens, in die wir uns die empfangenen Eindrücke unsrer Sinnlichkeit zurechtleg¬ ten. Diese über alle Anfechtung richtige Darstellung mußte aber aufs höchste befremden, da man durch längere Gewohnheit das Bewußtsein jener Seelen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/256>, abgerufen am 27.07.2024.