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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

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faßte. Schon damals begann Fichte sein neues System auszuarbeiten, mit
welchem die moderne Speculation in eine neue Phase treten sollte. Baggesen,
der überhaupt einen sehr günstigen, wenn auch unbemerkten Einfluß auf den
Fortgang der Literatur ausübte, vermittelte seine Bekanntschaft mit den Pro¬
fessoren Reinhold und Niethammer in Jena, die gleichfalls versuchten, in der
Entwicklung der Kantischen Philosophie einen eignen Weg zu gehen. Noch
vor Ablauf dieses Jahres erhielt er zu seiner großen Ueberraschung, als Rein¬
hold nach Kiel berufen wurde, einen Ruf nach Jena an dessen Stelle. Goethe
stellt uns diese Berufung als etwas höchst Verwegenes dar, und sie war es
auch in der That, wenn man Fichtes sonstige Stellung ins Auge saßt.

Bereits in der "Kritik der Offenbarung" hatte er sich als Freidenker ge¬
zeigt, ein Umstand, gegen welchen man bei dem Umsichgreifen der revolutionären
Gesinnung in Deutschland nicht mehr gleichgiltig war. Die Ideen der fran¬
zösischen Revolution hatten ihn mächtig ergriffen, und seine Umgebungen in
dem republikanischen Zürich hatten ihn darin nur bestärkt. Noch in demselben
Jahre waren von ihm die beiden Schriften erschienen: "Beiträge zur Be¬
richtigung des Urtheils über die französische Revolution" und
"Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas",
zwar anonym, aber das Gerücht deutete sehr bestimmt auf den Verfasser hin..
Es sprach sich in diesen Schriften, die ohne tiefe Einsicht, aber mit einer edlen
Wärme geschrieben waren, eine Auffassung des Lebens aus, die weit von Kant
abwich. Kants Lebensansicht beruhte ganz auf der Reinheit und Unsträflichkeit
des Privatlebens, den Staat betrachtete er, wenn man es deutlich aussprechen
will, als ein nothwendiges Uebel. Die Revolution, der man es danken wird,
daß sie diese Idee beseitigt, siel in sein Alter; sie blieb ihm fremd. Fichte
dagegen faßte die Idee des absoluten Staats mit der vollsten Begeisterung auf,
und die Ueberzeugung von der Souveränetät des Volks und der Nothwendig¬
keit, den Staat seinem Begriff gemäß zu entwickeln, ist ihm auch später ge¬
blieben. Die Menschen sollten alle ihre Verhältnisse nach der Vernunft ein¬
richten. Dieses Princip, welches wenigstens in ihren Bestrebungen die französische
Revolution immer vor Augen hielt, wurde ihm noch mehr eingeschärft durch einen
zweiten Umstand, der damals bedeutend in sein Leben eingriff. Es war dies
die Bekanntschaft mit Pestalozzi, der, wenn auch nur in einem bestimmten,
enggeschlossenen Kreise, eine in ihren Folgen unberechenbare Revolution in
der Menschheit anstrebte, nämlich eine totale Umgestaltung der Erziehung. Wie
tief diese Idee auf Fichte einwirkte und wie nachhaltig diese Wirkung blieb,
werden wir im Späteren verfolgen. Sie machte sich um so unmittelbarer bei
ihm geltend, da der Kreis seiner concreten Anschauungen nicht reich war.

Gern hätte Fichte mit dem Antritt seines Amtes noch gezögert, um vor¬
her die Grundlage seiner neuen Philosophie zu.vollenden. Allein sein sofor-


faßte. Schon damals begann Fichte sein neues System auszuarbeiten, mit
welchem die moderne Speculation in eine neue Phase treten sollte. Baggesen,
der überhaupt einen sehr günstigen, wenn auch unbemerkten Einfluß auf den
Fortgang der Literatur ausübte, vermittelte seine Bekanntschaft mit den Pro¬
fessoren Reinhold und Niethammer in Jena, die gleichfalls versuchten, in der
Entwicklung der Kantischen Philosophie einen eignen Weg zu gehen. Noch
vor Ablauf dieses Jahres erhielt er zu seiner großen Ueberraschung, als Rein¬
hold nach Kiel berufen wurde, einen Ruf nach Jena an dessen Stelle. Goethe
stellt uns diese Berufung als etwas höchst Verwegenes dar, und sie war es
auch in der That, wenn man Fichtes sonstige Stellung ins Auge saßt.

Bereits in der „Kritik der Offenbarung" hatte er sich als Freidenker ge¬
zeigt, ein Umstand, gegen welchen man bei dem Umsichgreifen der revolutionären
Gesinnung in Deutschland nicht mehr gleichgiltig war. Die Ideen der fran¬
zösischen Revolution hatten ihn mächtig ergriffen, und seine Umgebungen in
dem republikanischen Zürich hatten ihn darin nur bestärkt. Noch in demselben
Jahre waren von ihm die beiden Schriften erschienen: „Beiträge zur Be¬
richtigung des Urtheils über die französische Revolution" und
„Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas",
zwar anonym, aber das Gerücht deutete sehr bestimmt auf den Verfasser hin..
Es sprach sich in diesen Schriften, die ohne tiefe Einsicht, aber mit einer edlen
Wärme geschrieben waren, eine Auffassung des Lebens aus, die weit von Kant
abwich. Kants Lebensansicht beruhte ganz auf der Reinheit und Unsträflichkeit
des Privatlebens, den Staat betrachtete er, wenn man es deutlich aussprechen
will, als ein nothwendiges Uebel. Die Revolution, der man es danken wird,
daß sie diese Idee beseitigt, siel in sein Alter; sie blieb ihm fremd. Fichte
dagegen faßte die Idee des absoluten Staats mit der vollsten Begeisterung auf,
und die Ueberzeugung von der Souveränetät des Volks und der Nothwendig¬
keit, den Staat seinem Begriff gemäß zu entwickeln, ist ihm auch später ge¬
blieben. Die Menschen sollten alle ihre Verhältnisse nach der Vernunft ein¬
richten. Dieses Princip, welches wenigstens in ihren Bestrebungen die französische
Revolution immer vor Augen hielt, wurde ihm noch mehr eingeschärft durch einen
zweiten Umstand, der damals bedeutend in sein Leben eingriff. Es war dies
die Bekanntschaft mit Pestalozzi, der, wenn auch nur in einem bestimmten,
enggeschlossenen Kreise, eine in ihren Folgen unberechenbare Revolution in
der Menschheit anstrebte, nämlich eine totale Umgestaltung der Erziehung. Wie
tief diese Idee auf Fichte einwirkte und wie nachhaltig diese Wirkung blieb,
werden wir im Späteren verfolgen. Sie machte sich um so unmittelbarer bei
ihm geltend, da der Kreis seiner concreten Anschauungen nicht reich war.

Gern hätte Fichte mit dem Antritt seines Amtes noch gezögert, um vor¬
her die Grundlage seiner neuen Philosophie zu.vollenden. Allein sein sofor-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/254>, abgerufen am 27.07.2024.