Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Wesen, von mittlerem Wuchs, schlankem aber kräftigem Bau. In seinem
Wesen ist der europäische und tartarische Typus ausgeprägt, indeß ist letzterer
entschieden überwiegend und hierin unterscheidet er sich wesentlich von seinem
Bruder Alexander, dem präsumtiven Thronfolger. Der Kaiser Nikolaus bevor¬
zugt augenscheinlich seinen Zweitgebornen und man erzählt sogar, daß ihm die
Krone bestimmt sei und daß bereits in den Archiven des Senats eine Abdi-
cationsurkunde deponirt sei, kraft deren der Cesarewitsch zu Gunsten seines
Bruders auf den Thron verzichte.

Wie dem auch sein mag, gewiß ist, daß Konstantin sehr ehrgeizig und
daß er ein entschiedner Gegner des Erstgeburtsrcchts ist. Er hat mehr als
einmal geäußert, daß der Thron nicht dem Aeltesten, sondern dem Würdigsten
gebühre und eines Tages überraschte ihn einer seiner Vertrauten, wie er auf
einer Landkarte Linien und Zeichen machte. ,,Was machen Ew. Hoheit da,"
fragte der Hinzukommende. "Ich zeichne die Grenzen meines künftigen Rei¬
ches, dies ist für meinen Bruder," sagte er und deutete auf den Norden, "das
für mich", wobei er aus den Süden wies. Der Name, den er trägt, ist für
ihn kein leeres Zeichen, er glaubt sich zum Erben Konstantinopels berufen
und widmet sich mit einem unglaublichen Fleiß dem Studium der Türkei und
allem, was damit verbunden. Als er 1850 eines Tages mit seiner Es-
cadre vor Helstngfors erschien, ließ er die Professoren der orientalischen
Sprache an Bord kommen und unterhielt sich mit denselben lange in tür¬
kischer Sprache. Er ist in der türkischen Literatur unendlich bewandert, kennt
die türkische Sprache vollkommen, ist vollkommen mit den politischen, mate¬
riellen, finanziellen und socialen Verhältnissen dieses Landes vertraut und
kennt die Geschichte desselben vortrefflich. Wird man nach diesen Mittheilun¬
gen noch über die so schlagende. Sachkunde erstaunt sein, welche der Kaiser
Nikolaus in seinen vertraulichen Mittheilungen mit Lord Seymour über den
"kranken Mann" kundgab?

Seit seiner Kindheit ließ der Großfürst Konstantin errathen, welcher Rich¬
tung er sich widmen würde. Er entwickelte in seinen Studien einen ans Un¬
glaubliche grenzenden Eifer und namentlich diejenigen seiner Lehrmeister, welche
ihn in den russische Verhältnisse betreffenden Lehrgegenständen unterrichteten,
wurden durch seine Lernbegierde förmlich geplagt. 'Ausländische Literatur, aus¬
genommen die auf orientalische Gegenstände bezügliche, interessirte ihn wenig
oder gar nicht. Man wird schon hieraus ermessen, welche Hoffnungen die all¬
russische Partei in diesen Prinzen setzt und welche Thaten sie von ihm er¬
wartet.

Der Großfürst Thronfolger Alexander dürfte unter so bewandten Um¬
ständen, namentlich jetzt, wo der Fanatismus der Altrussen aufs höchste ge¬
steigert ist, nicht geringe Hindernisse zu überwinden haben, wenn ein unvor-


Wesen, von mittlerem Wuchs, schlankem aber kräftigem Bau. In seinem
Wesen ist der europäische und tartarische Typus ausgeprägt, indeß ist letzterer
entschieden überwiegend und hierin unterscheidet er sich wesentlich von seinem
Bruder Alexander, dem präsumtiven Thronfolger. Der Kaiser Nikolaus bevor¬
zugt augenscheinlich seinen Zweitgebornen und man erzählt sogar, daß ihm die
Krone bestimmt sei und daß bereits in den Archiven des Senats eine Abdi-
cationsurkunde deponirt sei, kraft deren der Cesarewitsch zu Gunsten seines
Bruders auf den Thron verzichte.

Wie dem auch sein mag, gewiß ist, daß Konstantin sehr ehrgeizig und
daß er ein entschiedner Gegner des Erstgeburtsrcchts ist. Er hat mehr als
einmal geäußert, daß der Thron nicht dem Aeltesten, sondern dem Würdigsten
gebühre und eines Tages überraschte ihn einer seiner Vertrauten, wie er auf
einer Landkarte Linien und Zeichen machte. ,,Was machen Ew. Hoheit da,"
fragte der Hinzukommende. „Ich zeichne die Grenzen meines künftigen Rei¬
ches, dies ist für meinen Bruder," sagte er und deutete auf den Norden, „das
für mich", wobei er aus den Süden wies. Der Name, den er trägt, ist für
ihn kein leeres Zeichen, er glaubt sich zum Erben Konstantinopels berufen
und widmet sich mit einem unglaublichen Fleiß dem Studium der Türkei und
allem, was damit verbunden. Als er 1850 eines Tages mit seiner Es-
cadre vor Helstngfors erschien, ließ er die Professoren der orientalischen
Sprache an Bord kommen und unterhielt sich mit denselben lange in tür¬
kischer Sprache. Er ist in der türkischen Literatur unendlich bewandert, kennt
die türkische Sprache vollkommen, ist vollkommen mit den politischen, mate¬
riellen, finanziellen und socialen Verhältnissen dieses Landes vertraut und
kennt die Geschichte desselben vortrefflich. Wird man nach diesen Mittheilun¬
gen noch über die so schlagende. Sachkunde erstaunt sein, welche der Kaiser
Nikolaus in seinen vertraulichen Mittheilungen mit Lord Seymour über den
„kranken Mann" kundgab?

Seit seiner Kindheit ließ der Großfürst Konstantin errathen, welcher Rich¬
tung er sich widmen würde. Er entwickelte in seinen Studien einen ans Un¬
glaubliche grenzenden Eifer und namentlich diejenigen seiner Lehrmeister, welche
ihn in den russische Verhältnisse betreffenden Lehrgegenständen unterrichteten,
wurden durch seine Lernbegierde förmlich geplagt. 'Ausländische Literatur, aus¬
genommen die auf orientalische Gegenstände bezügliche, interessirte ihn wenig
oder gar nicht. Man wird schon hieraus ermessen, welche Hoffnungen die all¬
russische Partei in diesen Prinzen setzt und welche Thaten sie von ihm er¬
wartet.

Der Großfürst Thronfolger Alexander dürfte unter so bewandten Um¬
ständen, namentlich jetzt, wo der Fanatismus der Altrussen aufs höchste ge¬
steigert ist, nicht geringe Hindernisse zu überwinden haben, wenn ein unvor-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0150" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/281301"/>
          <p xml:id="ID_449" prev="#ID_448"> Wesen, von mittlerem Wuchs, schlankem aber kräftigem Bau. In seinem<lb/>
Wesen ist der europäische und tartarische Typus ausgeprägt, indeß ist letzterer<lb/>
entschieden überwiegend und hierin unterscheidet er sich wesentlich von seinem<lb/>
Bruder Alexander, dem präsumtiven Thronfolger. Der Kaiser Nikolaus bevor¬<lb/>
zugt augenscheinlich seinen Zweitgebornen und man erzählt sogar, daß ihm die<lb/>
Krone bestimmt sei und daß bereits in den Archiven des Senats eine Abdi-<lb/>
cationsurkunde deponirt sei, kraft deren der Cesarewitsch zu Gunsten seines<lb/>
Bruders auf den Thron verzichte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_450"> Wie dem auch sein mag, gewiß ist, daß Konstantin sehr ehrgeizig und<lb/>
daß er ein entschiedner Gegner des Erstgeburtsrcchts ist.  Er hat mehr als<lb/>
einmal geäußert, daß der Thron nicht dem Aeltesten, sondern dem Würdigsten<lb/>
gebühre und eines Tages überraschte ihn einer seiner Vertrauten, wie er auf<lb/>
einer Landkarte Linien und Zeichen machte.  ,,Was machen Ew. Hoheit da,"<lb/>
fragte der Hinzukommende.  &#x201E;Ich zeichne die Grenzen meines künftigen Rei¬<lb/>
ches, dies ist für meinen Bruder," sagte er und deutete auf den Norden, &#x201E;das<lb/>
für mich", wobei er aus den Süden wies. Der Name, den er trägt, ist für<lb/>
ihn kein leeres Zeichen, er glaubt sich zum Erben Konstantinopels berufen<lb/>
und widmet sich mit einem unglaublichen Fleiß dem Studium der Türkei und<lb/>
allem, was damit verbunden.  Als er 1850 eines Tages mit seiner Es-<lb/>
cadre vor Helstngfors erschien, ließ er die Professoren der orientalischen<lb/>
Sprache an Bord kommen und unterhielt sich mit denselben lange in tür¬<lb/>
kischer Sprache.  Er ist in der türkischen Literatur unendlich bewandert, kennt<lb/>
die türkische Sprache vollkommen, ist vollkommen mit den politischen, mate¬<lb/>
riellen, finanziellen und socialen Verhältnissen dieses Landes vertraut und<lb/>
kennt die Geschichte desselben vortrefflich.  Wird man nach diesen Mittheilun¬<lb/>
gen noch über die so schlagende. Sachkunde erstaunt sein, welche der Kaiser<lb/>
Nikolaus in seinen vertraulichen Mittheilungen mit Lord Seymour über den<lb/>
&#x201E;kranken Mann" kundgab?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_451"> Seit seiner Kindheit ließ der Großfürst Konstantin errathen, welcher Rich¬<lb/>
tung er sich widmen würde. Er entwickelte in seinen Studien einen ans Un¬<lb/>
glaubliche grenzenden Eifer und namentlich diejenigen seiner Lehrmeister, welche<lb/>
ihn in den russische Verhältnisse betreffenden Lehrgegenständen unterrichteten,<lb/>
wurden durch seine Lernbegierde förmlich geplagt. 'Ausländische Literatur, aus¬<lb/>
genommen die auf orientalische Gegenstände bezügliche, interessirte ihn wenig<lb/>
oder gar nicht. Man wird schon hieraus ermessen, welche Hoffnungen die all¬<lb/>
russische Partei in diesen Prinzen setzt und welche Thaten sie von ihm er¬<lb/>
wartet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_452" next="#ID_453"> Der Großfürst Thronfolger Alexander dürfte unter so bewandten Um¬<lb/>
ständen, namentlich jetzt, wo der Fanatismus der Altrussen aufs höchste ge¬<lb/>
steigert ist, nicht geringe Hindernisse zu überwinden haben, wenn ein unvor-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0150] Wesen, von mittlerem Wuchs, schlankem aber kräftigem Bau. In seinem Wesen ist der europäische und tartarische Typus ausgeprägt, indeß ist letzterer entschieden überwiegend und hierin unterscheidet er sich wesentlich von seinem Bruder Alexander, dem präsumtiven Thronfolger. Der Kaiser Nikolaus bevor¬ zugt augenscheinlich seinen Zweitgebornen und man erzählt sogar, daß ihm die Krone bestimmt sei und daß bereits in den Archiven des Senats eine Abdi- cationsurkunde deponirt sei, kraft deren der Cesarewitsch zu Gunsten seines Bruders auf den Thron verzichte. Wie dem auch sein mag, gewiß ist, daß Konstantin sehr ehrgeizig und daß er ein entschiedner Gegner des Erstgeburtsrcchts ist. Er hat mehr als einmal geäußert, daß der Thron nicht dem Aeltesten, sondern dem Würdigsten gebühre und eines Tages überraschte ihn einer seiner Vertrauten, wie er auf einer Landkarte Linien und Zeichen machte. ,,Was machen Ew. Hoheit da," fragte der Hinzukommende. „Ich zeichne die Grenzen meines künftigen Rei¬ ches, dies ist für meinen Bruder," sagte er und deutete auf den Norden, „das für mich", wobei er aus den Süden wies. Der Name, den er trägt, ist für ihn kein leeres Zeichen, er glaubt sich zum Erben Konstantinopels berufen und widmet sich mit einem unglaublichen Fleiß dem Studium der Türkei und allem, was damit verbunden. Als er 1850 eines Tages mit seiner Es- cadre vor Helstngfors erschien, ließ er die Professoren der orientalischen Sprache an Bord kommen und unterhielt sich mit denselben lange in tür¬ kischer Sprache. Er ist in der türkischen Literatur unendlich bewandert, kennt die türkische Sprache vollkommen, ist vollkommen mit den politischen, mate¬ riellen, finanziellen und socialen Verhältnissen dieses Landes vertraut und kennt die Geschichte desselben vortrefflich. Wird man nach diesen Mittheilun¬ gen noch über die so schlagende. Sachkunde erstaunt sein, welche der Kaiser Nikolaus in seinen vertraulichen Mittheilungen mit Lord Seymour über den „kranken Mann" kundgab? Seit seiner Kindheit ließ der Großfürst Konstantin errathen, welcher Rich¬ tung er sich widmen würde. Er entwickelte in seinen Studien einen ans Un¬ glaubliche grenzenden Eifer und namentlich diejenigen seiner Lehrmeister, welche ihn in den russische Verhältnisse betreffenden Lehrgegenständen unterrichteten, wurden durch seine Lernbegierde förmlich geplagt. 'Ausländische Literatur, aus¬ genommen die auf orientalische Gegenstände bezügliche, interessirte ihn wenig oder gar nicht. Man wird schon hieraus ermessen, welche Hoffnungen die all¬ russische Partei in diesen Prinzen setzt und welche Thaten sie von ihm er¬ wartet. Der Großfürst Thronfolger Alexander dürfte unter so bewandten Um¬ ständen, namentlich jetzt, wo der Fanatismus der Altrussen aufs höchste ge¬ steigert ist, nicht geringe Hindernisse zu überwinden haben, wenn ein unvor-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/150
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_281149/150>, abgerufen am 09.11.2024.