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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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tenter Künstler in der Strenge dieser Form nur das Beschränkende wahrnimmt
und nicht erkennt, das; die moderne Musik, soweit sie organisch gestaltet ist, auch
in ihrer freiesten Entwickelung, ans jenem Princip beruht, das man nicht ver¬
werfen kann ohne auch seine Consequenzen zu verwerfen -- allein da es nicht
die einzig nothwendige Form musikalischer Production ist, so kann man diese
Einseitigkeit hingehen lassen, wenn man von anderer Seite dafür entschädigt wird.
Aber bedenklich wird es, wenn man, wo diese Formen dennoch angewandt sind,
gewahr wird, daß der üble Erfolg die Wirkung der Ungeschicklichkeit ist, mit der
sie behandelt werden. Es ist eine schlimme Sache mit den Dingen, die gründlich
erlernt und geübt sein wollen; wenn dies versäumt ist, können weder Geist noch
Genie sie für den Augenblick erzwingen. Ich rede,jetzt nicht von dem unglück-
lichen Einfall, die Fuge als Mittel der Ironie und Satire zu gebrauchen, wie
im Faust; die Einleitung zur Flucht nach Ac.gypten prätendirt fugirtcn Stil.
Man darf bei dem künstlerischen Rigorismus, welchen Berlioz proclamirt, nicht
voraussetzen, daß dies eine Concession gegen die im Publicum herrschende Vor¬
stellung von Kirchenmusik sei, ebensowenig kann hier von einer historischen oder
localen Färbung die Rede sein, da die Scene in Palästina im Jahre 1 nach
Christi Geburt ist; sondern Berlioz muß einen fugirten Justrnmeutalsatz für den
angemessensten Ausdruck der einfachen religiösen Stimmung gehalten haben,' welche
sich in deu darauf folgenden Textesworten bestimmter ausspricht. Wir hören auch
ein Thema, dem niam nichts anhört als die Bestimmung fugirt zu werden, dann
die üblichen Eintritte, zu unserer Verwunderung schließt die Periode sogar mit
dem ehemals landüblichen Triller, den man schon als altmodisch zu betrachten ge¬
wohnt war. Wer nun nach dieser formellen Ankündigung eine Durchführung
erwartet, in welcher sich nicht nur der gründliche, sondern anch der geistreiche
Musiker bewähren tarw, der wird getäuscht. Zunächst wird derselbe Satz von
den Blasinstrnmenten wiederholt, dann wird ein neuer Ansatz mit dem Thema
gemacht, der zu nichts führt/ noch einer, der sich im Sande verläuft -- die
Ouvertüre ist aus. Mir fiel dabei die Geschichte vou dem Lehrer ein, der seinen
Schülern einen logischen Satz klar macheu wollte.,.'"Delikt euch ein großes Haus
und daneben einen großen Baum -- nein, so geht es nicht! -- denkt euch ein
kleines Haus und daneben einen kleinen Baum -- nein, so geht es auch nicht! --
denkt euch eine Hütte und daneben einen Busch -- nein, es geht gar nicht!"
So ist es auch mit der Fuge: es geht gar nicht. Und es muß wohl seinen
Grund haben, daß so oft die als geistreich gepriesenen Componisten, wenn sie
sich zum fugirten Stil herablassen, so gar trivial und geistlos werden.

Berlioz ist aber, wenn auch kein. Freund des fngirten Stils', doch dem cou-
trapunktischen entschieden zugethan. Das Wesen der cvntrapunktischen Schreibart
besteht, um es kurz anzugeben, bekanntlich darin, daß verschiedene Melodien zu¬
gleich selbstständig fortgeführt und zu einem harmonischen Ganzen vereinigt wer-


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tenter Künstler in der Strenge dieser Form nur das Beschränkende wahrnimmt
und nicht erkennt, das; die moderne Musik, soweit sie organisch gestaltet ist, auch
in ihrer freiesten Entwickelung, ans jenem Princip beruht, das man nicht ver¬
werfen kann ohne auch seine Consequenzen zu verwerfen — allein da es nicht
die einzig nothwendige Form musikalischer Production ist, so kann man diese
Einseitigkeit hingehen lassen, wenn man von anderer Seite dafür entschädigt wird.
Aber bedenklich wird es, wenn man, wo diese Formen dennoch angewandt sind,
gewahr wird, daß der üble Erfolg die Wirkung der Ungeschicklichkeit ist, mit der
sie behandelt werden. Es ist eine schlimme Sache mit den Dingen, die gründlich
erlernt und geübt sein wollen; wenn dies versäumt ist, können weder Geist noch
Genie sie für den Augenblick erzwingen. Ich rede,jetzt nicht von dem unglück-
lichen Einfall, die Fuge als Mittel der Ironie und Satire zu gebrauchen, wie
im Faust; die Einleitung zur Flucht nach Ac.gypten prätendirt fugirtcn Stil.
Man darf bei dem künstlerischen Rigorismus, welchen Berlioz proclamirt, nicht
voraussetzen, daß dies eine Concession gegen die im Publicum herrschende Vor¬
stellung von Kirchenmusik sei, ebensowenig kann hier von einer historischen oder
localen Färbung die Rede sein, da die Scene in Palästina im Jahre 1 nach
Christi Geburt ist; sondern Berlioz muß einen fugirten Justrnmeutalsatz für den
angemessensten Ausdruck der einfachen religiösen Stimmung gehalten haben,' welche
sich in deu darauf folgenden Textesworten bestimmter ausspricht. Wir hören auch
ein Thema, dem niam nichts anhört als die Bestimmung fugirt zu werden, dann
die üblichen Eintritte, zu unserer Verwunderung schließt die Periode sogar mit
dem ehemals landüblichen Triller, den man schon als altmodisch zu betrachten ge¬
wohnt war. Wer nun nach dieser formellen Ankündigung eine Durchführung
erwartet, in welcher sich nicht nur der gründliche, sondern anch der geistreiche
Musiker bewähren tarw, der wird getäuscht. Zunächst wird derselbe Satz von
den Blasinstrnmenten wiederholt, dann wird ein neuer Ansatz mit dem Thema
gemacht, der zu nichts führt/ noch einer, der sich im Sande verläuft — die
Ouvertüre ist aus. Mir fiel dabei die Geschichte vou dem Lehrer ein, der seinen
Schülern einen logischen Satz klar macheu wollte.,.'„Delikt euch ein großes Haus
und daneben einen großen Baum — nein, so geht es nicht! — denkt euch ein
kleines Haus und daneben einen kleinen Baum — nein, so geht es auch nicht! —
denkt euch eine Hütte und daneben einen Busch — nein, es geht gar nicht!"
So ist es auch mit der Fuge: es geht gar nicht. Und es muß wohl seinen
Grund haben, daß so oft die als geistreich gepriesenen Componisten, wenn sie
sich zum fugirten Stil herablassen, so gar trivial und geistlos werden.

Berlioz ist aber, wenn auch kein. Freund des fngirten Stils', doch dem cou-
trapunktischen entschieden zugethan. Das Wesen der cvntrapunktischen Schreibart
besteht, um es kurz anzugeben, bekanntlich darin, daß verschiedene Melodien zu¬
gleich selbstständig fortgeführt und zu einem harmonischen Ganzen vereinigt wer-


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[0491] tenter Künstler in der Strenge dieser Form nur das Beschränkende wahrnimmt und nicht erkennt, das; die moderne Musik, soweit sie organisch gestaltet ist, auch in ihrer freiesten Entwickelung, ans jenem Princip beruht, das man nicht ver¬ werfen kann ohne auch seine Consequenzen zu verwerfen — allein da es nicht die einzig nothwendige Form musikalischer Production ist, so kann man diese Einseitigkeit hingehen lassen, wenn man von anderer Seite dafür entschädigt wird. Aber bedenklich wird es, wenn man, wo diese Formen dennoch angewandt sind, gewahr wird, daß der üble Erfolg die Wirkung der Ungeschicklichkeit ist, mit der sie behandelt werden. Es ist eine schlimme Sache mit den Dingen, die gründlich erlernt und geübt sein wollen; wenn dies versäumt ist, können weder Geist noch Genie sie für den Augenblick erzwingen. Ich rede,jetzt nicht von dem unglück- lichen Einfall, die Fuge als Mittel der Ironie und Satire zu gebrauchen, wie im Faust; die Einleitung zur Flucht nach Ac.gypten prätendirt fugirtcn Stil. Man darf bei dem künstlerischen Rigorismus, welchen Berlioz proclamirt, nicht voraussetzen, daß dies eine Concession gegen die im Publicum herrschende Vor¬ stellung von Kirchenmusik sei, ebensowenig kann hier von einer historischen oder localen Färbung die Rede sein, da die Scene in Palästina im Jahre 1 nach Christi Geburt ist; sondern Berlioz muß einen fugirten Justrnmeutalsatz für den angemessensten Ausdruck der einfachen religiösen Stimmung gehalten haben,' welche sich in deu darauf folgenden Textesworten bestimmter ausspricht. Wir hören auch ein Thema, dem niam nichts anhört als die Bestimmung fugirt zu werden, dann die üblichen Eintritte, zu unserer Verwunderung schließt die Periode sogar mit dem ehemals landüblichen Triller, den man schon als altmodisch zu betrachten ge¬ wohnt war. Wer nun nach dieser formellen Ankündigung eine Durchführung erwartet, in welcher sich nicht nur der gründliche, sondern anch der geistreiche Musiker bewähren tarw, der wird getäuscht. Zunächst wird derselbe Satz von den Blasinstrnmenten wiederholt, dann wird ein neuer Ansatz mit dem Thema gemacht, der zu nichts führt/ noch einer, der sich im Sande verläuft — die Ouvertüre ist aus. Mir fiel dabei die Geschichte vou dem Lehrer ein, der seinen Schülern einen logischen Satz klar macheu wollte.,.'„Delikt euch ein großes Haus und daneben einen großen Baum — nein, so geht es nicht! — denkt euch ein kleines Haus und daneben einen kleinen Baum — nein, so geht es auch nicht! — denkt euch eine Hütte und daneben einen Busch — nein, es geht gar nicht!" So ist es auch mit der Fuge: es geht gar nicht. Und es muß wohl seinen Grund haben, daß so oft die als geistreich gepriesenen Componisten, wenn sie sich zum fugirten Stil herablassen, so gar trivial und geistlos werden. Berlioz ist aber, wenn auch kein. Freund des fngirten Stils', doch dem cou- trapunktischen entschieden zugethan. Das Wesen der cvntrapunktischen Schreibart besteht, um es kurz anzugeben, bekanntlich darin, daß verschiedene Melodien zu¬ gleich selbstständig fortgeführt und zu einem harmonischen Ganzen vereinigt wer- en

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/491>, abgerufen am 06.02.2025.