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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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anschloß. Man darf den Einfluß dieser Schule auf seine Denkungsart und
seine Gesinnung nicht gering anschlagen. Zwar hat er sich die scholastischen
Formen derselben nicht angeeignet, er hat den tiefsten Kern derselben nicht
erfaßt/ aber er ist durch sie zu Reflexionen über die Geschichte und zu einer
Methode der Composition angeleitet worden, die ihn unzweifelhaft in die Reihe
der Geschichtsphilosophen stellt. In vielen Punkten ist der Hegelsche Einfluß
auf ihn größer gewesen, als der Einfluß der historische" Schule, der er sonst,
seinem Princip nach, näher stand. So namentlich in seiner Auffassung der
römischen Geschichte. Er bat auch noch in der spätern Zeit, wo er bereits in
einen sehr lebhaften und erbitterten Federkrieg gegen die jüngeren Anhänger
Hegels verwickelt war, dem Meister in der "allgemeinen Geschtchte" ein sehr
ehrenvolles Zeugniß ausgestellt, worin freilich nicht der ganze Umfang und die
ganze Tiefe dieses außerordentlichen Geistes gewürdigt war, worin aber wenigstens
die eine Seite desselben die richtige Anerkennung fand, nämlich die strenge und
conservative sittliche Gesinnung. Aber Leo spricht diese Anerkennung in einer Form
ans, die etwas Beleidigendes hat und die zugleich ein unvollkommenes Berstäudniß
verräth. Er trennt die persönliche Gesinnung des Philosophen vollständig von dem
Inhalte seines wissenschaftlichen Systems, und beschuldigt das letztere, ein leeres
Fachwerk zu sein, in welches man jede beliebige Gesinnung und Ueberzeugung
einschachteln könne, so daß es als ein Zufall erscheint, daß Hegel grade diese
bestimmte Ueberzeugung gehegt und daß die jüngeren Hegelianer wenigstens
formell gar nicht unrecht haben, aus den Lehrsätzen ihres Meisters die entgegen¬
gesetzten Folgerungen zu ziehen.

Zum Theil liegt dieses Mißverständniß darin, daß er in dem Shste>in nichts
Anderes sieht, als die dialektische Methode: ein Irrthum, in den sehr viele von
den Anhängern und Gegnern Hegels verfallen sind. Nun ist zwar die Methode
el" sehr wesentliches Moment des Systems, aber sie erschöpft es nicht ganz, ein
jedes philosophische System wird vielmehr von einer ganz bestimmten substanziellen
Gesinnung getragen, die sich davon nicht trennen läßt. Man würde z. B. von
Spinoza ein ganz wunderliches Bild erhalten, wenn man sich bei seiner Würdigung
ans seine dürftige, ungenügende und ganz 'abstracte Methode beschränkte. -- Ein
zweiter Grund liegt in der Ausdrucksweise Hegels. Er hatte bei der Feststellung
seines Systems nach zwei Seiten bin zu kämpfen, gegen den Liberalismus und
gegen die Romantik. In der Polemik kehrt man aber nur diejenigen Seiten
hervor/die für daß augenblickliche Bedürfniß geeignet sind, und so geschah es
denn, daß Hegel, der zunächst und am dringendsten gegen die Abstraktionen und
das Generalisiren des Liberalismus anzukämpfen hatte, es zuweilen verschwieg
oder wenigstens nicht deutlich hervortreten ließ, daß sein System und das System
der Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts, so scharf auch im einzelnen der
Gegensatz war, dennoch auf derselben Basis beruhte, nämlich auf der Ueberzeugung


31 *

anschloß. Man darf den Einfluß dieser Schule auf seine Denkungsart und
seine Gesinnung nicht gering anschlagen. Zwar hat er sich die scholastischen
Formen derselben nicht angeeignet, er hat den tiefsten Kern derselben nicht
erfaßt/ aber er ist durch sie zu Reflexionen über die Geschichte und zu einer
Methode der Composition angeleitet worden, die ihn unzweifelhaft in die Reihe
der Geschichtsphilosophen stellt. In vielen Punkten ist der Hegelsche Einfluß
auf ihn größer gewesen, als der Einfluß der historische» Schule, der er sonst,
seinem Princip nach, näher stand. So namentlich in seiner Auffassung der
römischen Geschichte. Er bat auch noch in der spätern Zeit, wo er bereits in
einen sehr lebhaften und erbitterten Federkrieg gegen die jüngeren Anhänger
Hegels verwickelt war, dem Meister in der „allgemeinen Geschtchte" ein sehr
ehrenvolles Zeugniß ausgestellt, worin freilich nicht der ganze Umfang und die
ganze Tiefe dieses außerordentlichen Geistes gewürdigt war, worin aber wenigstens
die eine Seite desselben die richtige Anerkennung fand, nämlich die strenge und
conservative sittliche Gesinnung. Aber Leo spricht diese Anerkennung in einer Form
ans, die etwas Beleidigendes hat und die zugleich ein unvollkommenes Berstäudniß
verräth. Er trennt die persönliche Gesinnung des Philosophen vollständig von dem
Inhalte seines wissenschaftlichen Systems, und beschuldigt das letztere, ein leeres
Fachwerk zu sein, in welches man jede beliebige Gesinnung und Ueberzeugung
einschachteln könne, so daß es als ein Zufall erscheint, daß Hegel grade diese
bestimmte Ueberzeugung gehegt und daß die jüngeren Hegelianer wenigstens
formell gar nicht unrecht haben, aus den Lehrsätzen ihres Meisters die entgegen¬
gesetzten Folgerungen zu ziehen.

Zum Theil liegt dieses Mißverständniß darin, daß er in dem Shste>in nichts
Anderes sieht, als die dialektische Methode: ein Irrthum, in den sehr viele von
den Anhängern und Gegnern Hegels verfallen sind. Nun ist zwar die Methode
el» sehr wesentliches Moment des Systems, aber sie erschöpft es nicht ganz, ein
jedes philosophische System wird vielmehr von einer ganz bestimmten substanziellen
Gesinnung getragen, die sich davon nicht trennen läßt. Man würde z. B. von
Spinoza ein ganz wunderliches Bild erhalten, wenn man sich bei seiner Würdigung
ans seine dürftige, ungenügende und ganz 'abstracte Methode beschränkte. — Ein
zweiter Grund liegt in der Ausdrucksweise Hegels. Er hatte bei der Feststellung
seines Systems nach zwei Seiten bin zu kämpfen, gegen den Liberalismus und
gegen die Romantik. In der Polemik kehrt man aber nur diejenigen Seiten
hervor/die für daß augenblickliche Bedürfniß geeignet sind, und so geschah es
denn, daß Hegel, der zunächst und am dringendsten gegen die Abstraktionen und
das Generalisiren des Liberalismus anzukämpfen hatte, es zuweilen verschwieg
oder wenigstens nicht deutlich hervortreten ließ, daß sein System und das System
der Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts, so scharf auch im einzelnen der
Gegensatz war, dennoch auf derselben Basis beruhte, nämlich auf der Ueberzeugung


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[0411] anschloß. Man darf den Einfluß dieser Schule auf seine Denkungsart und seine Gesinnung nicht gering anschlagen. Zwar hat er sich die scholastischen Formen derselben nicht angeeignet, er hat den tiefsten Kern derselben nicht erfaßt/ aber er ist durch sie zu Reflexionen über die Geschichte und zu einer Methode der Composition angeleitet worden, die ihn unzweifelhaft in die Reihe der Geschichtsphilosophen stellt. In vielen Punkten ist der Hegelsche Einfluß auf ihn größer gewesen, als der Einfluß der historische» Schule, der er sonst, seinem Princip nach, näher stand. So namentlich in seiner Auffassung der römischen Geschichte. Er bat auch noch in der spätern Zeit, wo er bereits in einen sehr lebhaften und erbitterten Federkrieg gegen die jüngeren Anhänger Hegels verwickelt war, dem Meister in der „allgemeinen Geschtchte" ein sehr ehrenvolles Zeugniß ausgestellt, worin freilich nicht der ganze Umfang und die ganze Tiefe dieses außerordentlichen Geistes gewürdigt war, worin aber wenigstens die eine Seite desselben die richtige Anerkennung fand, nämlich die strenge und conservative sittliche Gesinnung. Aber Leo spricht diese Anerkennung in einer Form ans, die etwas Beleidigendes hat und die zugleich ein unvollkommenes Berstäudniß verräth. Er trennt die persönliche Gesinnung des Philosophen vollständig von dem Inhalte seines wissenschaftlichen Systems, und beschuldigt das letztere, ein leeres Fachwerk zu sein, in welches man jede beliebige Gesinnung und Ueberzeugung einschachteln könne, so daß es als ein Zufall erscheint, daß Hegel grade diese bestimmte Ueberzeugung gehegt und daß die jüngeren Hegelianer wenigstens formell gar nicht unrecht haben, aus den Lehrsätzen ihres Meisters die entgegen¬ gesetzten Folgerungen zu ziehen. Zum Theil liegt dieses Mißverständniß darin, daß er in dem Shste>in nichts Anderes sieht, als die dialektische Methode: ein Irrthum, in den sehr viele von den Anhängern und Gegnern Hegels verfallen sind. Nun ist zwar die Methode el» sehr wesentliches Moment des Systems, aber sie erschöpft es nicht ganz, ein jedes philosophische System wird vielmehr von einer ganz bestimmten substanziellen Gesinnung getragen, die sich davon nicht trennen läßt. Man würde z. B. von Spinoza ein ganz wunderliches Bild erhalten, wenn man sich bei seiner Würdigung ans seine dürftige, ungenügende und ganz 'abstracte Methode beschränkte. — Ein zweiter Grund liegt in der Ausdrucksweise Hegels. Er hatte bei der Feststellung seines Systems nach zwei Seiten bin zu kämpfen, gegen den Liberalismus und gegen die Romantik. In der Polemik kehrt man aber nur diejenigen Seiten hervor/die für daß augenblickliche Bedürfniß geeignet sind, und so geschah es denn, daß Hegel, der zunächst und am dringendsten gegen die Abstraktionen und das Generalisiren des Liberalismus anzukämpfen hatte, es zuweilen verschwieg oder wenigstens nicht deutlich hervortreten ließ, daß sein System und das System der Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts, so scharf auch im einzelnen der Gegensatz war, dennoch auf derselben Basis beruhte, nämlich auf der Ueberzeugung 31 *

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/411>, abgerufen am 06.02.2025.