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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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Versicherung gegeben, daß in dem Augenblick, wo der türkische Gesandte mit der
unveränderten Wiener Note ankommt, die russischen Truppen die Donaufürsten-
thümer räume". Das ist der erste Schritt des Entgegenkommens, den Rußland
gethan: denn die Annahme des Wiener Entwurfs verstand sich von selbst. Es
wird nun wol dazu benutzt werden, daß England und Frankreich noch lebhafter
und mit einem größern Anschein der Berechtigung in den Sultan dringen, nach¬
zugeben. Von einer Garantie gegen ähnliche Einfälle ist freilich nicht die Rede,
und wir sind in Europa bereits soweit gekommen, daß wir es als eine Con¬
cession ansehen, wenn die russischen Truppen einmal aus einer Provinz hinaus¬
gehen, die sie widerrechtlich besetzt haben.

In diesem ganzen Streit ist bis jetzt von einem Factor wenig die Rede ge¬
wesen, ans den es doch eigentlich sehr ankommen sollte, von den griechischen Un¬
terthanen der Pforte. Das romantische Philhellenenthum der zwanziger Jahre
ist glücklicherweise vollständig verraucht; wir schwärmen nicht mehr für die Freiheit
der "Griechen", weil sie in Sparta und Athen wohnen, auch nicht, weil sie das
russische Kreuz tragen. Abgesehen von den officiellen Kreuzrittern finden sich
nur noch wenig Prediger für einen Kreuzzug gegen den Erbfeind des christlichen
Namens. Zu den letzteren gehört John Lemoinne, der Verfasser einer nicht
uninteressanter Broschüre an- 1'intöAritv as l'sniviriz Ottomar (?aris, N. I^soo).
Aber auch er leitet die Nothwendigkeit der griechischen Emancipation weder aus
der Ilias, "och aus der Geschichte Konstantin des Großen ab, sondern wenigstens
zum Theil aus den factischen Verhältnissen. Und diese verdienen allerdings ge¬
hört zu werden. Auf die Redensart, daß die Türken Barbaren sind, die Grie¬
chen die Erbe" des Sophokles, die Türken Heiden und die Griechen Christen,
aus diese Redensarten geben wir gar nichts. Aber -- die Griechen sind der bei
weitem zahlreichere Theil der Bevölkerung, und sie sind die Betriebsamen, in
ihren Händen ist fast ausschließlich der Handel und der Landbau; und doch sind
sie nicht blos die unterdrückte Classe, sondern es ist absolut keine Möglichkeit
vorhanden, so liberal anch die Türkei sich reformiren möge, daß ihnen politische
Vollbürtigkeit im Reich jemals zugestanden wird. An diesem Verhängnis; geht
die Türkei zu Grunde, keine Macht der Erde kann sie retten. Wer jetzt für
sie auftritt, will uur die russische Machtvergrößerung verhindern.

Aber vor einer Illusion müssen die Griechen sich hüten, in der sie die meisten
ihrer Freunde und Gönner bestärken -- darunter auch ein seit zwei Monaten
erscheinendes Londoner Wochenblatt: Ine Kastern 8or; .Je"um-r1 ok Ldristian
Civilisation, voMes, cliplomaev, üteratni'ö, g,re, commerce, meos etc-.--
von der Illusion nämlich, es könnte ein griechisches Kaiserthum an Stelle des
türkischen treten. Eine Emancipation von den Türken ist nur in der Weise
möglich, wie es bis jetzt in Griechenland, Serbien und eigentlich auch in Monte¬
negro geschehen ist, oder in der Weise der Domufürstenthümer. Die türkischen


Grenzboteii. IV. -I8S3. S

Versicherung gegeben, daß in dem Augenblick, wo der türkische Gesandte mit der
unveränderten Wiener Note ankommt, die russischen Truppen die Donaufürsten-
thümer räume». Das ist der erste Schritt des Entgegenkommens, den Rußland
gethan: denn die Annahme des Wiener Entwurfs verstand sich von selbst. Es
wird nun wol dazu benutzt werden, daß England und Frankreich noch lebhafter
und mit einem größern Anschein der Berechtigung in den Sultan dringen, nach¬
zugeben. Von einer Garantie gegen ähnliche Einfälle ist freilich nicht die Rede,
und wir sind in Europa bereits soweit gekommen, daß wir es als eine Con¬
cession ansehen, wenn die russischen Truppen einmal aus einer Provinz hinaus¬
gehen, die sie widerrechtlich besetzt haben.

In diesem ganzen Streit ist bis jetzt von einem Factor wenig die Rede ge¬
wesen, ans den es doch eigentlich sehr ankommen sollte, von den griechischen Un¬
terthanen der Pforte. Das romantische Philhellenenthum der zwanziger Jahre
ist glücklicherweise vollständig verraucht; wir schwärmen nicht mehr für die Freiheit
der „Griechen", weil sie in Sparta und Athen wohnen, auch nicht, weil sie das
russische Kreuz tragen. Abgesehen von den officiellen Kreuzrittern finden sich
nur noch wenig Prediger für einen Kreuzzug gegen den Erbfeind des christlichen
Namens. Zu den letzteren gehört John Lemoinne, der Verfasser einer nicht
uninteressanter Broschüre an- 1'intöAritv as l'sniviriz Ottomar (?aris, N. I^soo).
Aber auch er leitet die Nothwendigkeit der griechischen Emancipation weder aus
der Ilias, »och aus der Geschichte Konstantin des Großen ab, sondern wenigstens
zum Theil aus den factischen Verhältnissen. Und diese verdienen allerdings ge¬
hört zu werden. Auf die Redensart, daß die Türken Barbaren sind, die Grie¬
chen die Erbe» des Sophokles, die Türken Heiden und die Griechen Christen,
aus diese Redensarten geben wir gar nichts. Aber — die Griechen sind der bei
weitem zahlreichere Theil der Bevölkerung, und sie sind die Betriebsamen, in
ihren Händen ist fast ausschließlich der Handel und der Landbau; und doch sind
sie nicht blos die unterdrückte Classe, sondern es ist absolut keine Möglichkeit
vorhanden, so liberal anch die Türkei sich reformiren möge, daß ihnen politische
Vollbürtigkeit im Reich jemals zugestanden wird. An diesem Verhängnis; geht
die Türkei zu Grunde, keine Macht der Erde kann sie retten. Wer jetzt für
sie auftritt, will uur die russische Machtvergrößerung verhindern.

Aber vor einer Illusion müssen die Griechen sich hüten, in der sie die meisten
ihrer Freunde und Gönner bestärken — darunter auch ein seit zwei Monaten
erscheinendes Londoner Wochenblatt: Ine Kastern 8or; .Je»um-r1 ok Ldristian
Civilisation, voMes, cliplomaev, üteratni'ö, g,re, commerce, meos etc-.—
von der Illusion nämlich, es könnte ein griechisches Kaiserthum an Stelle des
türkischen treten. Eine Emancipation von den Türken ist nur in der Weise
möglich, wie es bis jetzt in Griechenland, Serbien und eigentlich auch in Monte¬
negro geschehen ist, oder in der Weise der Domufürstenthümer. Die türkischen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/41>, abgerufen am 05.02.2025.