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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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Ferner aber ist die That des Derwisches selbst sowie sie durch den Dichter
dargestellt wird, verderblich für die Wirkung des Gedichtes. Es ist durchaus
nicht ""möglich, daß ein fanatischer Agitator einen solche" Entschluß faßt und
ausführt, wenn aber der Dichter eine ruchlose That braucht, muß er dem Thäter
in seinem Gedicht auch die Stellung gebe", welche unser menschliches Gefühl ei¬
nem solchen gefährlichen Gesellen zuweist. Der Derwisch ist Hausfreund i" der
Familie seines Opfers, er muß naturgemäß ein menschliches Interesse an dem
nehmen, den er in den Abgrund stürzt, ja man sieht nicht ein, warum der Bru¬
der Adas ihm nicht naher steht als Emir Hamsad, für den er doch so schnell ein
so gemüthliches, echt deutsches Wohlwollen empfindet. Bis zu der That er¬
scheint der Derwisch immer in dem hellen Licht eines guten Patrioten, und selbst
nachher erhält er keine anderen Farben. Dazu kommt, daß der Act des Mor¬
des selbst doch zu bleich und farblos geschildert, die Gemüthsbewegung des Der¬
wisches auch nachher viel zu wenig ausgeführt ist. Man verliert dadurch das
Interesse an der dargestellten Begebenheit, statt daß dieses Interesse sich grade
an diesem Punkte aufs höchste steigern müßte.

Diese Ausstellung, welche an dem Gedicht Bodenstedts zu mache" ist, er¬
klärt sich zum Theil ans den eigenthümlichen Schwierigkeiten, welche die epische
Behandlung einer fremden Volksiudividualität, fremder Sitten, einer fremden Denk-
"ud Empfindungsweise hervorbringt. ES ist wahr, daß das Epos vorzüglich
geeignet ist, uns das allgemein Menschliche ans dem Boden nationaler Eigen¬
thümlichkeit darzustellen und es ist ferner wahr, daß grade die Aeußerungen
eines fremden Volkslebens auf die Seele des beobachtenden Dichters starken epi¬
schen Reiz ausüben. Auch ist kein Grund vorhanden, aus dem ein Heldenge¬
dicht, welches tscherkessische oder japancstsche oder anderer Menschen Verhältnisse
n. s. w. darstellt, nicht die Höhe n"d Bedeutung eines großen und fesselnden
Dichterwerkes erreiche" sollte. Und wenn uns aus diesen Völkern epische Dich¬
tungen erhalten wären, in denen sie ihr eigenes Leben, ihre Schicksale und Tha¬
ten erzählen, so würden wir solche Gedichte jedenfalls mit dem größten wissen¬
schaftlichen Interesse betrachten und ihren poetischen Werth unter anderem darnach
schätzen, ob die Menschen und Begebenheiten durch allgemein verständliche, nicht von
einem bestimmten barbarischen Bildungszustände abhängige Motive und Verhältnisse
bewegt werde", d. h. ob uns der Kern der Handlung verständlich ist. Und es ist
ein Erfahrungssatz, daß bei allen ans dem Volke selbst hervorgegangenen Dich¬
tungen über dem Wunderlichen und Originelle" seiner Weltanschauung sich bei
Hanptactivnen allgemein verständliche Beziehungen in den Vordergrund stelle".
Wenn aber ein gebildeter Mann unseres Volkes solche Zustände eines fremden
Volkslebens vor uns aufzurollen bemüht ist, so wird er von vornherein in
der Versuchung sein, uns grade das Fremdartige, Eigenthümliche, Merkwürdige,
von unserer Empfindungsweise Abweichende in den Vordergrund zu stelle". Da-


Ferner aber ist die That des Derwisches selbst sowie sie durch den Dichter
dargestellt wird, verderblich für die Wirkung des Gedichtes. Es ist durchaus
nicht »»möglich, daß ein fanatischer Agitator einen solche» Entschluß faßt und
ausführt, wenn aber der Dichter eine ruchlose That braucht, muß er dem Thäter
in seinem Gedicht auch die Stellung gebe», welche unser menschliches Gefühl ei¬
nem solchen gefährlichen Gesellen zuweist. Der Derwisch ist Hausfreund i» der
Familie seines Opfers, er muß naturgemäß ein menschliches Interesse an dem
nehmen, den er in den Abgrund stürzt, ja man sieht nicht ein, warum der Bru¬
der Adas ihm nicht naher steht als Emir Hamsad, für den er doch so schnell ein
so gemüthliches, echt deutsches Wohlwollen empfindet. Bis zu der That er¬
scheint der Derwisch immer in dem hellen Licht eines guten Patrioten, und selbst
nachher erhält er keine anderen Farben. Dazu kommt, daß der Act des Mor¬
des selbst doch zu bleich und farblos geschildert, die Gemüthsbewegung des Der¬
wisches auch nachher viel zu wenig ausgeführt ist. Man verliert dadurch das
Interesse an der dargestellten Begebenheit, statt daß dieses Interesse sich grade
an diesem Punkte aufs höchste steigern müßte.

Diese Ausstellung, welche an dem Gedicht Bodenstedts zu mache» ist, er¬
klärt sich zum Theil ans den eigenthümlichen Schwierigkeiten, welche die epische
Behandlung einer fremden Volksiudividualität, fremder Sitten, einer fremden Denk-
»ud Empfindungsweise hervorbringt. ES ist wahr, daß das Epos vorzüglich
geeignet ist, uns das allgemein Menschliche ans dem Boden nationaler Eigen¬
thümlichkeit darzustellen und es ist ferner wahr, daß grade die Aeußerungen
eines fremden Volkslebens auf die Seele des beobachtenden Dichters starken epi¬
schen Reiz ausüben. Auch ist kein Grund vorhanden, aus dem ein Heldenge¬
dicht, welches tscherkessische oder japancstsche oder anderer Menschen Verhältnisse
n. s. w. darstellt, nicht die Höhe n»d Bedeutung eines großen und fesselnden
Dichterwerkes erreiche» sollte. Und wenn uns aus diesen Völkern epische Dich¬
tungen erhalten wären, in denen sie ihr eigenes Leben, ihre Schicksale und Tha¬
ten erzählen, so würden wir solche Gedichte jedenfalls mit dem größten wissen¬
schaftlichen Interesse betrachten und ihren poetischen Werth unter anderem darnach
schätzen, ob die Menschen und Begebenheiten durch allgemein verständliche, nicht von
einem bestimmten barbarischen Bildungszustände abhängige Motive und Verhältnisse
bewegt werde«, d. h. ob uns der Kern der Handlung verständlich ist. Und es ist
ein Erfahrungssatz, daß bei allen ans dem Volke selbst hervorgegangenen Dich¬
tungen über dem Wunderlichen und Originelle» seiner Weltanschauung sich bei
Hanptactivnen allgemein verständliche Beziehungen in den Vordergrund stelle».
Wenn aber ein gebildeter Mann unseres Volkes solche Zustände eines fremden
Volkslebens vor uns aufzurollen bemüht ist, so wird er von vornherein in
der Versuchung sein, uns grade das Fremdartige, Eigenthümliche, Merkwürdige,
von unserer Empfindungsweise Abweichende in den Vordergrund zu stelle». Da-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/375>, abgerufen am 05.02.2025.