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Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

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Das Werk des Herrn Burkhardt ist dazu eine sehr interessante Vorarbeit,
es ist aber noch keine ganz solide und gesicherte Grundlage. Der Grundgedanke,
den er durchführt, ist geistreich und wahr; er entspricht ziemlich genau demjenigen,
den Heinrich Rückert in seiner kürzlich von uns erwähnten deutschen Kultur¬
geschichte verfolgt hat. Es wird nachgewiesen, wie alle Göttergestalten der alten
Welt dnrch ihre Beziehung aufeinander ihre ursprüngliche Physiognomie verloren,
wie sie theils in allegorische Traumwesen sich aufgelöst, theils in unheimlichen Spuk er-
wartete hatten; wie aber die Grundstimmung des suchenden Gemüths, das vou einer
Religion zur andern fortstürmte, sich jeder von ihnen mit fanatischer Zuversicht in die
Arme warf, aber jede wieder unbefriedigt verließ, genau die nämliche war, welche
im Christenthume ihre wirkliche Gestaltung fand; nämlich die Sehnsucht nach einer
überirdischen Welt, nach einem ewigen Leben, welches der absolute Gegensatz des
irdischen Lebens sein sollte, weil dieses irdische Leben des römischen Weltreichs
in der That ein Reich der Lüge geworden war. Diese Romantik des abster¬
benden Heidenthums, wenn man uns diesen Ausdruck verstatte" will, hat im
Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts unsere Naturphilosophen und Mystiker
dazu verführt, als den Beginn der Religion dasjenige anzunehmen, was nur der
Auflösungsproceß derselben war. Die bestimmten plastischen Göttergestalten, die
eine klar ausgesprochene Physiognomie hatten, mußten erst durch vielhundertjährige
Anstrengung des Denkens und des Empfindens ausgelöst und verarbeitet werden,
um jene Mystik daraus hervorgehen zu lassen, die man in den Zeiten der mo¬
dernen Romantik als die höchste Weisheit der Urreligion anzustaunen geneigt war.
Diesen Wahn aufzuklären und das Verhältniß in das richtige Licht zu setzen ist
das vorliegende Werk ein dankenswerther Beitrag.


Gtschlcchtstcifeln zur Erläuterung der allgemeinen Geschichte nebst einer synchronistischen
Uebersichtstafel von F. Th. Richter. 1. Abtheilung. 1. Heft. Leipzig.
T. O. Weigel.

Das erste Heft enthält vierzig Tafeln und erstreckt sich bis auf die Zeit des
Jul. Cäsar und seiner unmittelbaren Nachfolger. Der Verfasser geht mit Recht
von dem Grundsätze ans, daß die wichtige historische Hilfswissenschaft der Genea¬
logie nicht blos ans Königsgeschlechter ihre Anwendung finden darf, und gibt da¬
her in der Hälfte der vorliegenden Tafeln die Abstanimnngsvcrhältnisse der bedeu¬
tendsten römischen Familien. Die Einrichtung des Werks ist von der Art, daß
auf der einen Folioseite die Tafel selbst steht, auf der ihr entgegenstehenden der
kritische Apparat, nämlich der Nachweis der Quellen, wo über jede in der Ge¬
schlechtstafel vorkommende Person, namentlich die weniger bekannten, nähere Aus¬
kunft zu finden ist. Was die Chronologie betrifft, so hat der Verfasser überall die
nationale zu Grnnde gelegt und so finden wir in diesen Tafeln sieben verschiedene
chronologische Systeme, nämlich die Jnlianische Periode, die jüdische Zeitrechnung,


Das Werk des Herrn Burkhardt ist dazu eine sehr interessante Vorarbeit,
es ist aber noch keine ganz solide und gesicherte Grundlage. Der Grundgedanke,
den er durchführt, ist geistreich und wahr; er entspricht ziemlich genau demjenigen,
den Heinrich Rückert in seiner kürzlich von uns erwähnten deutschen Kultur¬
geschichte verfolgt hat. Es wird nachgewiesen, wie alle Göttergestalten der alten
Welt dnrch ihre Beziehung aufeinander ihre ursprüngliche Physiognomie verloren,
wie sie theils in allegorische Traumwesen sich aufgelöst, theils in unheimlichen Spuk er-
wartete hatten; wie aber die Grundstimmung des suchenden Gemüths, das vou einer
Religion zur andern fortstürmte, sich jeder von ihnen mit fanatischer Zuversicht in die
Arme warf, aber jede wieder unbefriedigt verließ, genau die nämliche war, welche
im Christenthume ihre wirkliche Gestaltung fand; nämlich die Sehnsucht nach einer
überirdischen Welt, nach einem ewigen Leben, welches der absolute Gegensatz des
irdischen Lebens sein sollte, weil dieses irdische Leben des römischen Weltreichs
in der That ein Reich der Lüge geworden war. Diese Romantik des abster¬
benden Heidenthums, wenn man uns diesen Ausdruck verstatte» will, hat im
Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts unsere Naturphilosophen und Mystiker
dazu verführt, als den Beginn der Religion dasjenige anzunehmen, was nur der
Auflösungsproceß derselben war. Die bestimmten plastischen Göttergestalten, die
eine klar ausgesprochene Physiognomie hatten, mußten erst durch vielhundertjährige
Anstrengung des Denkens und des Empfindens ausgelöst und verarbeitet werden,
um jene Mystik daraus hervorgehen zu lassen, die man in den Zeiten der mo¬
dernen Romantik als die höchste Weisheit der Urreligion anzustaunen geneigt war.
Diesen Wahn aufzuklären und das Verhältniß in das richtige Licht zu setzen ist
das vorliegende Werk ein dankenswerther Beitrag.


Gtschlcchtstcifeln zur Erläuterung der allgemeinen Geschichte nebst einer synchronistischen
Uebersichtstafel von F. Th. Richter. 1. Abtheilung. 1. Heft. Leipzig.
T. O. Weigel.

Das erste Heft enthält vierzig Tafeln und erstreckt sich bis auf die Zeit des
Jul. Cäsar und seiner unmittelbaren Nachfolger. Der Verfasser geht mit Recht
von dem Grundsätze ans, daß die wichtige historische Hilfswissenschaft der Genea¬
logie nicht blos ans Königsgeschlechter ihre Anwendung finden darf, und gibt da¬
her in der Hälfte der vorliegenden Tafeln die Abstanimnngsvcrhältnisse der bedeu¬
tendsten römischen Familien. Die Einrichtung des Werks ist von der Art, daß
auf der einen Folioseite die Tafel selbst steht, auf der ihr entgegenstehenden der
kritische Apparat, nämlich der Nachweis der Quellen, wo über jede in der Ge¬
schlechtstafel vorkommende Person, namentlich die weniger bekannten, nähere Aus¬
kunft zu finden ist. Was die Chronologie betrifft, so hat der Verfasser überall die
nationale zu Grnnde gelegt und so finden wir in diesen Tafeln sieben verschiedene
chronologische Systeme, nämlich die Jnlianische Periode, die jüdische Zeitrechnung,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/350>, abgerufen am 05.02.2025.