Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.Gegner des Christenthums, der durch den Fortbestand dieser Religion, der er sich Gegner des Christenthums, der durch den Fortbestand dieser Religion, der er sich <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0349" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/97054"/> <p xml:id="ID_1071" prev="#ID_1070"> Gegner des Christenthums, der durch den Fortbestand dieser Religion, der er sich<lb/> innerlich entfremdet hat, sich fortwährend verletzt fühlt, ebenso unfähig sein, der<lb/> Geschichte des Christenthums gerecht zu werden. Denn er wird nur zu geneigt<lb/> sein, überall nach endlichen kleinen Motiven, uach bestimmten Interessen zu fragen,<lb/> und verführt durch die Irrationalität der Form, die ihm in der Gegenwart einen<lb/> so gerechten Widerwillen einflößt, das wirkliche Wunder des Geistes nicht be¬<lb/> greifen, das einen mächtigeren Eindruck macht, als die kleinen Wunder des Jen¬<lb/> seits, die doch weiter nichts sind, als vorausgesetzte Abnormitäten. Nun ist aber<lb/> bis jetzt nur höchst selten ein Schriftsteller zu finde» gewesen, der nicht entweder<lb/> zu den Enthusiasten oder zu deu Feinde» des Christenthums gehörte; denn eine<lb/> dritte Classe, die Nationalisten des vorigen Jahrhunderts, welche die Analogie<lb/> ihrer eigenen kleinen Verhältnisse in die ganze Weltgeschichte übertrugen, war am<lb/> allerwenigsten befähigt, sich von diesem großen Ereignisse eine Vorstellung zu<lb/> machen. Jetzt scheint indeß der Zeitpunkt gekommen zu sein, wo eine objective<lb/> Darstellung des Christenthums als möglich gedacht werden kann. Die Philoso¬<lb/> phie der Geschichte und die historische Kritik haben uus darauf vorbereitet: die<lb/> erste, indem sie uns auf die großen ursprünglichen und schöpferischen Ideen<lb/> im Laufe der Weltgeschichte aufmerksam machte, die andere, indem sie un¬<lb/> sere Angen für die Thatsachen schärfte. Das Eine ohne das Andere wäre<lb/> unfruchtbar geblieben, denn die Philosophie verführt uns sehr bald, uus<lb/> auf die Ideen allein zu stützen, »ut der Einbildungskraft und Combination<lb/> Raum zu geben, wo nur die Forschungen mit sprechen dürften; und die<lb/> historische Kritik vertiefte sich so ins Detail, daß sie den ideellen Zusam¬<lb/> menhang darüber ganz aus den Augen verlor. Jetzt ist aber glücklicherweise die¬<lb/> ser Gegensatz versöhnt, es wird keinen Philosophen mehr geben, der sich, wenn er<lb/> Geschichte schreibt, der historischen Kritik, und keinen Historiker, der sich der Spe-<lb/> culation entschlagen zu dürfen glaubte: oder wo es solche gibt, gehören sie nicht<lb/> mehr der Wissenschaft an. Nachdem die Grundideen der religiösen Bewegung<lb/> durch die Philosophie wenigstens soweit festgestellt sind, daß sie als Leitfaden für<lb/> die Forschung dienen können, kommt es darauf an, mit diesem ideellen Maßstabe<lb/> an der Hand Schritt für Schritt den historischen Quellen zu folgen und überall<lb/> die Spuren wiederherzustellen, aus denen endlich die vollkommne Gestalt hervor¬<lb/> gehen kann. Es versteht sich von selbst, daß ein solches Werk nicht im ersten<lb/> Wurf gelingen wird, es kommt nur darauf an, daß nach einer strengen Methode<lb/> verfahren wird, daß man stets genau unterscheidet, wieviel man weiß und wieviel<lb/> man uicht weiß, und sich daher nie in der Lage sieht, einen Schritt zurückthnn zu<lb/> müssen. Wenn wir jetzt in derselben Methode, wie Jacob Grimm den Organis¬<lb/> mus der deutschen Sprache festgestellt hat, den Organismus des religiösen Den¬<lb/> kens und Empfindens herzustellen verständen, so würde uns sehr bald gehol¬<lb/> fen sein.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0349]
Gegner des Christenthums, der durch den Fortbestand dieser Religion, der er sich
innerlich entfremdet hat, sich fortwährend verletzt fühlt, ebenso unfähig sein, der
Geschichte des Christenthums gerecht zu werden. Denn er wird nur zu geneigt
sein, überall nach endlichen kleinen Motiven, uach bestimmten Interessen zu fragen,
und verführt durch die Irrationalität der Form, die ihm in der Gegenwart einen
so gerechten Widerwillen einflößt, das wirkliche Wunder des Geistes nicht be¬
greifen, das einen mächtigeren Eindruck macht, als die kleinen Wunder des Jen¬
seits, die doch weiter nichts sind, als vorausgesetzte Abnormitäten. Nun ist aber
bis jetzt nur höchst selten ein Schriftsteller zu finde» gewesen, der nicht entweder
zu den Enthusiasten oder zu deu Feinde» des Christenthums gehörte; denn eine
dritte Classe, die Nationalisten des vorigen Jahrhunderts, welche die Analogie
ihrer eigenen kleinen Verhältnisse in die ganze Weltgeschichte übertrugen, war am
allerwenigsten befähigt, sich von diesem großen Ereignisse eine Vorstellung zu
machen. Jetzt scheint indeß der Zeitpunkt gekommen zu sein, wo eine objective
Darstellung des Christenthums als möglich gedacht werden kann. Die Philoso¬
phie der Geschichte und die historische Kritik haben uus darauf vorbereitet: die
erste, indem sie uns auf die großen ursprünglichen und schöpferischen Ideen
im Laufe der Weltgeschichte aufmerksam machte, die andere, indem sie un¬
sere Angen für die Thatsachen schärfte. Das Eine ohne das Andere wäre
unfruchtbar geblieben, denn die Philosophie verführt uns sehr bald, uus
auf die Ideen allein zu stützen, »ut der Einbildungskraft und Combination
Raum zu geben, wo nur die Forschungen mit sprechen dürften; und die
historische Kritik vertiefte sich so ins Detail, daß sie den ideellen Zusam¬
menhang darüber ganz aus den Augen verlor. Jetzt ist aber glücklicherweise die¬
ser Gegensatz versöhnt, es wird keinen Philosophen mehr geben, der sich, wenn er
Geschichte schreibt, der historischen Kritik, und keinen Historiker, der sich der Spe-
culation entschlagen zu dürfen glaubte: oder wo es solche gibt, gehören sie nicht
mehr der Wissenschaft an. Nachdem die Grundideen der religiösen Bewegung
durch die Philosophie wenigstens soweit festgestellt sind, daß sie als Leitfaden für
die Forschung dienen können, kommt es darauf an, mit diesem ideellen Maßstabe
an der Hand Schritt für Schritt den historischen Quellen zu folgen und überall
die Spuren wiederherzustellen, aus denen endlich die vollkommne Gestalt hervor¬
gehen kann. Es versteht sich von selbst, daß ein solches Werk nicht im ersten
Wurf gelingen wird, es kommt nur darauf an, daß nach einer strengen Methode
verfahren wird, daß man stets genau unterscheidet, wieviel man weiß und wieviel
man uicht weiß, und sich daher nie in der Lage sieht, einen Schritt zurückthnn zu
müssen. Wenn wir jetzt in derselben Methode, wie Jacob Grimm den Organis¬
mus der deutschen Sprache festgestellt hat, den Organismus des religiösen Den¬
kens und Empfindens herzustellen verständen, so würde uns sehr bald gehol¬
fen sein.
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