Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

wirke", und die aus jenen Prämissen nicht herzuleiten sind; aber auf diese wird
die Aufmerksamkeit nur nebenher hingelenkt, wir beschäftigen uus vorzugsweise
nur Mit der Verfolgung der Scelenbewegungen. Namentlich seitdem durch den
Protestantismus die Verinnerlichung des geistigen Lebens zu eiuer Herzenssache
gemacht worden ist, hat auch die dramatische Poesie alles gethan, um die Auf¬
merksamkeit von dem Aeußerlichen ans das Innerliche zu wenden. Shakespeares
Stücke find fast ohne Ausnahme wesentlich Charaktcrentwickelungen; sie sind von
innen heraus gearbeitet, nicht von außen; wir suhlen uns nie versucht, die
Ereignisse, die als mitwirkende Factoren eintreten, in die Collectivvorstellnng eines
Schicksals oder Verhängnisses zusammenzufassen, sie beschäftige" uns nur, insofern
sie dem Charakter Gelegenheit geben, sich zu entwickeln. In noch viel höheren
Grade ist das bei Lessing der Fall. Seine Emilia Galotti ist ein ewiges Muster
künstlerischer Evolution. Mau kann über die Charakterbildung der Emilia,
ihres Vaters und Appianis sehr viel Bedenken haben, denn sie sind so fein
individualisirt und dabei so vergeistigt, daß man nicht mehr recht weiß, ob auch
der Typus des rein Menschlichen sich in ihnen erhalten hat; aber man muß diese
Voraussetzungen zugeben, denn sie find mit einer überzeugenden Plastik ausge¬
führt, und wenn man sie einmal zugegeben hat, so ist kein Sträuben gegen die
gewaltige Macht der weiter" Entwickelung möglich. Noch weiter ist Goethe ge¬
gangen. Schon in seinem Götz und Egmont, obgleich eine Masse einzelner
äußerer Begebenheiten sich darin zusammendränge", "och mehr im Faust "ud in
der Iphigenie, am vollständigste" im Tasso, hat sich der Dichter darauf beschränkt,
uus Charakterstudien zu geben, und er ist darin soweit gegangen, daß die
künstlerische Form, die doch nur durch die Gruppirung des Schicksals herbeige¬
führt werden kauu, sich vollständig auflöst. Tasso ist ein ganz merkwürdiges
Zeichen dafür, wie die Macht der Verinnerlichung und Vergeistigung wenigstens
ein gebildetes Publicum für den Maugel an Stoff entschädige" kann. Die Be¬
gebenheit, die im Tasso dargestellt ist, würde kaum eine kleine Novelle ausfüllen,
denn sie hat weder Anfang, noch Mitte, noch Ende; aber die Gemüthsbewegungen,
die sich bei Gelegenheit dieser ""bedeutenden Begebenheit entwickeln, sind so an¬
ziehend und bedeutend, daß man nicht blos bei der Lectüre, sondern selbst im
Theater gefesselt wird. In Frankreich würde ein solcher Versuch allerdings gänzlich
mißlingen, und wir wollen nicht so voreilig sein, daraus gleich die poetische Un¬
zurechnungsfähigkeit der Franzose" herzuleiten; wir müssen nus "ur bemühen, in
ihnen eine andere, eine der unsrigen entgegengesetzte Form der poetischen Natur
aufzusuchen.

Die entgegengesetzte Methode der dramatischen Komposition hat nämlich nicht
blos eine gewisse Berechtigung, sie ist sogar die natürlichere, womit freilich keineswegs
gesagt sein soll, sie sei anch die bessere. Das griechische Theater hat fast überall
von außen nach innen gearbeitet, das heißt, es hat das Schicksal und die sich


wirke», und die aus jenen Prämissen nicht herzuleiten sind; aber auf diese wird
die Aufmerksamkeit nur nebenher hingelenkt, wir beschäftigen uus vorzugsweise
nur Mit der Verfolgung der Scelenbewegungen. Namentlich seitdem durch den
Protestantismus die Verinnerlichung des geistigen Lebens zu eiuer Herzenssache
gemacht worden ist, hat auch die dramatische Poesie alles gethan, um die Auf¬
merksamkeit von dem Aeußerlichen ans das Innerliche zu wenden. Shakespeares
Stücke find fast ohne Ausnahme wesentlich Charaktcrentwickelungen; sie sind von
innen heraus gearbeitet, nicht von außen; wir suhlen uns nie versucht, die
Ereignisse, die als mitwirkende Factoren eintreten, in die Collectivvorstellnng eines
Schicksals oder Verhängnisses zusammenzufassen, sie beschäftige» uns nur, insofern
sie dem Charakter Gelegenheit geben, sich zu entwickeln. In noch viel höheren
Grade ist das bei Lessing der Fall. Seine Emilia Galotti ist ein ewiges Muster
künstlerischer Evolution. Mau kann über die Charakterbildung der Emilia,
ihres Vaters und Appianis sehr viel Bedenken haben, denn sie sind so fein
individualisirt und dabei so vergeistigt, daß man nicht mehr recht weiß, ob auch
der Typus des rein Menschlichen sich in ihnen erhalten hat; aber man muß diese
Voraussetzungen zugeben, denn sie find mit einer überzeugenden Plastik ausge¬
führt, und wenn man sie einmal zugegeben hat, so ist kein Sträuben gegen die
gewaltige Macht der weiter» Entwickelung möglich. Noch weiter ist Goethe ge¬
gangen. Schon in seinem Götz und Egmont, obgleich eine Masse einzelner
äußerer Begebenheiten sich darin zusammendränge», »och mehr im Faust »ud in
der Iphigenie, am vollständigste» im Tasso, hat sich der Dichter darauf beschränkt,
uus Charakterstudien zu geben, und er ist darin soweit gegangen, daß die
künstlerische Form, die doch nur durch die Gruppirung des Schicksals herbeige¬
führt werden kauu, sich vollständig auflöst. Tasso ist ein ganz merkwürdiges
Zeichen dafür, wie die Macht der Verinnerlichung und Vergeistigung wenigstens
ein gebildetes Publicum für den Maugel an Stoff entschädige» kann. Die Be¬
gebenheit, die im Tasso dargestellt ist, würde kaum eine kleine Novelle ausfüllen,
denn sie hat weder Anfang, noch Mitte, noch Ende; aber die Gemüthsbewegungen,
die sich bei Gelegenheit dieser »»bedeutenden Begebenheit entwickeln, sind so an¬
ziehend und bedeutend, daß man nicht blos bei der Lectüre, sondern selbst im
Theater gefesselt wird. In Frankreich würde ein solcher Versuch allerdings gänzlich
mißlingen, und wir wollen nicht so voreilig sein, daraus gleich die poetische Un¬
zurechnungsfähigkeit der Franzose» herzuleiten; wir müssen nus »ur bemühen, in
ihnen eine andere, eine der unsrigen entgegengesetzte Form der poetischen Natur
aufzusuchen.

Die entgegengesetzte Methode der dramatischen Komposition hat nämlich nicht
blos eine gewisse Berechtigung, sie ist sogar die natürlichere, womit freilich keineswegs
gesagt sein soll, sie sei anch die bessere. Das griechische Theater hat fast überall
von außen nach innen gearbeitet, das heißt, es hat das Schicksal und die sich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0022" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/96727"/>
          <p xml:id="ID_41" prev="#ID_40"> wirke», und die aus jenen Prämissen nicht herzuleiten sind; aber auf diese wird<lb/>
die Aufmerksamkeit nur nebenher hingelenkt, wir beschäftigen uus vorzugsweise<lb/>
nur Mit der Verfolgung der Scelenbewegungen. Namentlich seitdem durch den<lb/>
Protestantismus die Verinnerlichung des geistigen Lebens zu eiuer Herzenssache<lb/>
gemacht worden ist, hat auch die dramatische Poesie alles gethan, um die Auf¬<lb/>
merksamkeit von dem Aeußerlichen ans das Innerliche zu wenden. Shakespeares<lb/>
Stücke find fast ohne Ausnahme wesentlich Charaktcrentwickelungen; sie sind von<lb/>
innen heraus gearbeitet, nicht von außen; wir suhlen uns nie versucht, die<lb/>
Ereignisse, die als mitwirkende Factoren eintreten, in die Collectivvorstellnng eines<lb/>
Schicksals oder Verhängnisses zusammenzufassen, sie beschäftige» uns nur, insofern<lb/>
sie dem Charakter Gelegenheit geben, sich zu entwickeln. In noch viel höheren<lb/>
Grade ist das bei Lessing der Fall. Seine Emilia Galotti ist ein ewiges Muster<lb/>
künstlerischer Evolution. Mau kann über die Charakterbildung der Emilia,<lb/>
ihres Vaters und Appianis sehr viel Bedenken haben, denn sie sind so fein<lb/>
individualisirt und dabei so vergeistigt, daß man nicht mehr recht weiß, ob auch<lb/>
der Typus des rein Menschlichen sich in ihnen erhalten hat; aber man muß diese<lb/>
Voraussetzungen zugeben, denn sie find mit einer überzeugenden Plastik ausge¬<lb/>
führt, und wenn man sie einmal zugegeben hat, so ist kein Sträuben gegen die<lb/>
gewaltige Macht der weiter» Entwickelung möglich. Noch weiter ist Goethe ge¬<lb/>
gangen. Schon in seinem Götz und Egmont, obgleich eine Masse einzelner<lb/>
äußerer Begebenheiten sich darin zusammendränge», »och mehr im Faust »ud in<lb/>
der Iphigenie, am vollständigste» im Tasso, hat sich der Dichter darauf beschränkt,<lb/>
uus Charakterstudien zu geben, und er ist darin soweit gegangen, daß die<lb/>
künstlerische Form, die doch nur durch die Gruppirung des Schicksals herbeige¬<lb/>
führt werden kauu, sich vollständig auflöst. Tasso ist ein ganz merkwürdiges<lb/>
Zeichen dafür, wie die Macht der Verinnerlichung und Vergeistigung wenigstens<lb/>
ein gebildetes Publicum für den Maugel an Stoff entschädige» kann. Die Be¬<lb/>
gebenheit, die im Tasso dargestellt ist, würde kaum eine kleine Novelle ausfüllen,<lb/>
denn sie hat weder Anfang, noch Mitte, noch Ende; aber die Gemüthsbewegungen,<lb/>
die sich bei Gelegenheit dieser »»bedeutenden Begebenheit entwickeln, sind so an¬<lb/>
ziehend und bedeutend, daß man nicht blos bei der Lectüre, sondern selbst im<lb/>
Theater gefesselt wird. In Frankreich würde ein solcher Versuch allerdings gänzlich<lb/>
mißlingen, und wir wollen nicht so voreilig sein, daraus gleich die poetische Un¬<lb/>
zurechnungsfähigkeit der Franzose» herzuleiten; wir müssen nus »ur bemühen, in<lb/>
ihnen eine andere, eine der unsrigen entgegengesetzte Form der poetischen Natur<lb/>
aufzusuchen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_42" next="#ID_43"> Die entgegengesetzte Methode der dramatischen Komposition hat nämlich nicht<lb/>
blos eine gewisse Berechtigung, sie ist sogar die natürlichere, womit freilich keineswegs<lb/>
gesagt sein soll, sie sei anch die bessere. Das griechische Theater hat fast überall<lb/>
von außen nach innen gearbeitet, das heißt, es hat das Schicksal und die sich</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0022] wirke», und die aus jenen Prämissen nicht herzuleiten sind; aber auf diese wird die Aufmerksamkeit nur nebenher hingelenkt, wir beschäftigen uus vorzugsweise nur Mit der Verfolgung der Scelenbewegungen. Namentlich seitdem durch den Protestantismus die Verinnerlichung des geistigen Lebens zu eiuer Herzenssache gemacht worden ist, hat auch die dramatische Poesie alles gethan, um die Auf¬ merksamkeit von dem Aeußerlichen ans das Innerliche zu wenden. Shakespeares Stücke find fast ohne Ausnahme wesentlich Charaktcrentwickelungen; sie sind von innen heraus gearbeitet, nicht von außen; wir suhlen uns nie versucht, die Ereignisse, die als mitwirkende Factoren eintreten, in die Collectivvorstellnng eines Schicksals oder Verhängnisses zusammenzufassen, sie beschäftige» uns nur, insofern sie dem Charakter Gelegenheit geben, sich zu entwickeln. In noch viel höheren Grade ist das bei Lessing der Fall. Seine Emilia Galotti ist ein ewiges Muster künstlerischer Evolution. Mau kann über die Charakterbildung der Emilia, ihres Vaters und Appianis sehr viel Bedenken haben, denn sie sind so fein individualisirt und dabei so vergeistigt, daß man nicht mehr recht weiß, ob auch der Typus des rein Menschlichen sich in ihnen erhalten hat; aber man muß diese Voraussetzungen zugeben, denn sie find mit einer überzeugenden Plastik ausge¬ führt, und wenn man sie einmal zugegeben hat, so ist kein Sträuben gegen die gewaltige Macht der weiter» Entwickelung möglich. Noch weiter ist Goethe ge¬ gangen. Schon in seinem Götz und Egmont, obgleich eine Masse einzelner äußerer Begebenheiten sich darin zusammendränge», »och mehr im Faust »ud in der Iphigenie, am vollständigste» im Tasso, hat sich der Dichter darauf beschränkt, uus Charakterstudien zu geben, und er ist darin soweit gegangen, daß die künstlerische Form, die doch nur durch die Gruppirung des Schicksals herbeige¬ führt werden kauu, sich vollständig auflöst. Tasso ist ein ganz merkwürdiges Zeichen dafür, wie die Macht der Verinnerlichung und Vergeistigung wenigstens ein gebildetes Publicum für den Maugel an Stoff entschädige» kann. Die Be¬ gebenheit, die im Tasso dargestellt ist, würde kaum eine kleine Novelle ausfüllen, denn sie hat weder Anfang, noch Mitte, noch Ende; aber die Gemüthsbewegungen, die sich bei Gelegenheit dieser »»bedeutenden Begebenheit entwickeln, sind so an¬ ziehend und bedeutend, daß man nicht blos bei der Lectüre, sondern selbst im Theater gefesselt wird. In Frankreich würde ein solcher Versuch allerdings gänzlich mißlingen, und wir wollen nicht so voreilig sein, daraus gleich die poetische Un¬ zurechnungsfähigkeit der Franzose» herzuleiten; wir müssen nus »ur bemühen, in ihnen eine andere, eine der unsrigen entgegengesetzte Form der poetischen Natur aufzusuchen. Die entgegengesetzte Methode der dramatischen Komposition hat nämlich nicht blos eine gewisse Berechtigung, sie ist sogar die natürlichere, womit freilich keineswegs gesagt sein soll, sie sei anch die bessere. Das griechische Theater hat fast überall von außen nach innen gearbeitet, das heißt, es hat das Schicksal und die sich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/22
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 12, 1853, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341576_96706/22>, abgerufen am 05.02.2025.